Ich kann mich gut daran erinnern, als ich zum ersten Mal die Freude spürte, die einen überkommt, wenn man einen komplexen Text versteht. Ich besuchte ein Seminar zum Thema Kritische Theorie an der Universität von Kapstadt, wo ich Germanistik studierte. Deutsch war meine zweite Fremdsprache und der Text Pflichtlektüre. Ich war ziemlich überfordert – wenn ich das Buch heute aufschlage, sehe ich unzählige Übersetzungen einzelner Worte, die ich mit Bleistift an den Seitenrändern notierte. Ich weiß noch, dass ich mich beim Bleistiftspitzen zumindest etwas weniger überwältigt fühlte von diesem wunderbaren Etwas, das ich da zu begreifen versuchte.
Auf der ganzen Welt waren Lieder immer Teil dessen, womit wir unsere Erfahrungen austauschen.
Der Text war Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte. Meine winzigen Randnotizen waren erste Wegmarken, von denen aus ich in den Rhythmus von Benjamins herrlichen Sätzen eintauchen konnte. Ich war überrascht, wie sehr mich ihr Kerngedanke faszinierte: Die Idee, dass Geschichte nicht linear verläuft und Wahrheit viel eher ein verworrenes Geflecht von Erfahrungen ist als eine logische Aufeinanderfolge von Ereignissen, hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. In diesen Begriffen über Musik zu sprechen ist fast so schwierig, wie jemandem, der nicht kocht, zu erklären, was das Wunderbare an einem Ei ist. Ich glaube, unsere Lieder sind der Schlüssel.
Auf der ganzen Welt waren Lieder immer Teil dessen, womit wir unsere Erfahrungen austauschen. Sie sind unsere Geschichten. Jedes für sich genommen mag einfach erscheinen, aber niemandes Geschichte lässt sich mit einem einzigen Lied erzählen. Wir sammeln sie während unseres Lebens – manche passen zusammen, andere scheinbar nicht. Und doch existieren sie alle gleichzeitig und stehen für unterschiedliche Facetten unseres Daseins. Auf unserem Weg begegnen wir anderen Menschen, denen wir einen Teil unserer Lieder schenken, während wir etwas von ihren mitnehmen. Was linear und einfach schien, wird verworren, aber damit auch wahrhaftiger.
Es hat mich immer ein bisschen traurig gemacht, dass Ewigkeit für uns – anders als für Benjamins allsehenden Engel der Geschichte – immer unfassbar bleiben wird. Aber vielleicht habe ich mich geirrt. Vielleicht kann uns Musik helfen, den richtigen Weg zu finden, wenn wir mit ihr dasselbe tun wie ich damals mit meinem Bleistift: Wenn wir den Fährten einzelner Melodien folgen, führen sie uns mitten hinein in ihr wildes Durcheinander koexistierender Wahrheiten. Die Pluralität unserer gemeinsamen Erfahrungen mag einschüchternd wirken, aber sich darauf einzulassen, ist – wie das Singen – zutiefst natürlich, schön und vor allem einfach menschlich.
– Kirsten Dawes, Künstlerische Leiterin