Ästhetik ist das Wesen der Kunst. Der Begriff kommt vom altgriechischen Wort aísthēsis und meint „Wahrnehmung“ und „Empfindung“. Um die Vielschichtigkeit von etwas wahrnehmen und wertschätzen zu können – man könnte auch sagen zu empfinden – müssen wir genau hinsehen, genau hinhören, uns einlassen, zulassen, ge duldig sein. Das Theater ist ein Ort, an dem wir die Kunst der Wahrnehmung und Empfindungen trainieren können. Das Theater ist ein Ort der Begegnung. Das Theater zeigt, es spricht, es erzählt, es klingt, leuchtet und pulsiert. Im Theater werden wir konfrontiert, mit unseren Erwartungen, mit unserer Neugier, unseren Konventionen, mit unserer Bereitschaft, auf etwas Unbekanntes zuzugehen, uns zu zerstreuen, zu begeistern oder erschüttern zu lassen. Das Theater und die Kunst können uns helfen, eine Position einzunehmen, Haltung zu beziehen. Denn Kunst simuliert, spiegelt, erhöht oder verkleinert das, was wir gemeinhin die Wirklichkeit nennen. Zugleich ist die Kunst zweckfrei. Sie muss nichts müssen. Kunst kann für sich stehen und sich lösen von der Realität, denn sie ist ihrem Wesen nach frei. Das macht sie so mächtig und zerbrechlich – im selben Augenblick. In der Geschichte der Menschheit, die ja zu gleich die Geschichte der Kunst ist, haben sich Künstler*innen und ihre Werke immer wieder in den Dienst der Macht stellen müssen oder taten es sogar freiwillig. Kunst und Künstler*innen wurden in einen Zweck gezwungen oder dienten ihm willfährig. Aber immer wieder haben sie auch gegen die Bürden von Konvention und Moral aufbegehrt und neue Welten ersonnen. Kunst war immer auch ein Mittel des Widerstands, der Revolte, der utopischen Entwürfe oder – ein Ort Haltung zu zeigen und Hoffnung zu machen.
Die Kunst ist frei und wird hierzulande im Besonderen geschützt. In Artikel 5 unseres Grundgesetzes heißt es: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ Das steht im dritten Absatz. Direkt im ersten Absatz heißt es: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ – Kein Absatz unseres Grundgesetzes ist in den letzten Monaten wohl mehr debattiert worden und hat – vor allem in den Sozialen Medien – für heftigere Auseinandersetzungen gesorgt. Wurde doch in der andauernden Pandemie immer häufiger die Frage gestellt, „was man eigentlich (in diesem Land) noch sagen dürfe?“ Es wurde gestritten über Meinungsfreiheit und eine vermeint liche „Meinungsdiktatur“. Immer gewichtiger wurden die verbalen Geschütze. Mancherorts wuchsen sie zu ge fährlichen, realen Bedrohungen für Menschen – für Politiker*innen, Journalist*innen und für Künstler*innen. Während die Vehemenz der Auseinandersetzungen sich stellenweise radikalisierte, konnte gleichzeitig jede noch so abstruse Meinung immer und überall weiterhin geäußert werden. Ein Missverständnis wurde sichtbar: Meinungsfreiheit heißt eben nicht, dass einer Meinung nicht widersprochen werden darf. Meinungsfreiheit bedeutet im Gegenteil auch Freiheit zum Widerspruch. Jeder Meinung kann, darf (und muss manchmal eben auch) eine andere Meinung entgegengesetzt werden. Diese GegenMeinung ist ebenfalls frei.
Und doch scheinen Menschen zunehmend zu glauben, dass, wenn ihrer Meinung widersprochen wird, ihre Meinungsfreiheit eingeschränkt würde. So wird Widerspruch zur Unterdrückung umgedeutet.
Das Gegenteil ist der Fall. Erst in der Freiheit zum Widerspruch zeigt sich die Freiheit der Rede. Es ist in Ordnung, wenn ich an derer Meinung bin und das auch ausdrücke. Eine Demokratie muss plural sein. Vielfalt muss gewährt werden. Es ist nicht von Bedeutung, ob alle mit der Vielfalt einverstanden sind. Wir müssen aushalten, dass wir nicht alle eins miteinander sein werden. Was nicht heißt, dass alles Geäußerte toleriert werden muss. Vor allem dann nicht, wenn Intoleranz zur Meinung wird. Meinungsfreiheit heißt eben nicht, dass uneingeschränkte Toleranz für alles Gesagte gelten kann. Der Philosoph Karl Popper nannte es das Paradoxon der Toleranz und schrieb dazu: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“
Die Kunst fördert ihrem Wesen nach Wahrnehmung und Empfindung. Sie bietet uns Raum uns einzulassen, uns auseinanderzusetzen, uns tolerant, offen, respektvoll und solidarisch zeigen zu können. Gerade das Solidarisch- Sein ist eng mit der Geschichte der Ruhrfestspiele verbunden, mit Recklinghausen und der Gewerkschaftsbewegung. Solidarität kann nur gelingen, wenn wir wissen, dass „etwas für andere einsetzen“, etwas „für andere wagen“ nicht bedeutet, dass wir selber etwas verlieren, sondern vielmehr etwas gewinnen können. Das braucht Selbstvertrauen, Selbstsicherheit – es braucht Haltung. Denn mit ihr formuliert sich ein Glaube daran, dass etwas Neues, Größeres entstehen kann: Haltung und Hoffnung.
Wir haben auch in diesem Jahr ein vielfältiges Programm zusammengestellt. Das Angebot reicht von internationaler Kunst bis zu experimentellen, intermedialen Entdeckungen, von tiefgründigem Kinder- und Jugendtheater bis zu engagierter Literatur. Zahlreiche prominente Schauspieler*innen werden die diesjährigen Ruhrfestspiele besuchen und mit Imany auch ein internationaler Popstar. Gleichzeitig gibt es virtuose Arbeiten des Neuen Zirkus zu entdecken und ein breitgefächertes Angebot zum Austausch im „Dialog“ sowie ein „Mach mit“- Programm der Jungen Ruhrfestspiele.
Der südafrikanische Künstler William Kentridge eröffnet die diesjährigen Festspiele mit der Deutschlandpremiere „SIBYL“. Dieser bildgewaltige Abend entzieht sich einfachen Beschreibungen, denn er erzählt keine lineare Geschichte und ist doch übervoll mit Musik, Literatur, Film, Theater und Tanz. Stilprägende Elemente dieser Inszenierung sind seine Kohlezeichnungen. Der Abend denkt nach über die Natur, die Mythologie, die Vielfalt menschlicher Kulturen und Sprachen, er handelt vom Bergbau, der Entstehung von Kunst und der Sehnsucht nach Gemeinschaft. Am folgenden Tag zeigt der italienische Theatervisionär Romeo Castellucci mit „Bros“ eine Theaterarbeit über Macht, Gewalt und Hoffnung. Ein ästhetisches und politisches Manifest, das das Publikum auf eine emotionale Achterbahnfahrt schickt. In die Kunsthalle Recklinghausen kommt die estnische Künslerin Flo Kasearu mit ihrer ersten großen Einzelausstellung zu den Ruhrfestspielen; mit dabei ihre „Disorder Patrol“, die auf Recklinghausens Straßen sicher nicht für Ordnung sorgen wird. Außerdem sind u.a. zu Gast Dada Masilo, Element of Crime, Maren Kroymann, Fritzi Haber- landt, Corinna Harfouch, Matthias Brandt und Charly Hübner, die bezaubernde Clownin Gabriela Muñoz, das GRIPS Theater und in Kooperation mit dem FIDENA Figurentheaterfestival die Puppenspielikonen Neville Tranter und Nikolaus Habjan – um hier nur ein paar Schlaglichter zu setzen.
– Olaf Kröck, Intendant der 76. Ruhrfestspiele