Aus „Kämpfen“: Erhebe dein Gesicht

Auszug Der letzte Band „Kämpfen“ ist der provokanteste: Knausgård beschreibt hier die innere Zerrissenheit des Autors, Sohns, Ehemanns und Vaters. Das alles endet in einer persönlichen Auseinandersetzung mit der autobiographischen Propagandaschrift Hitlers
Aus „Kämpfen“: Erhebe dein Gesicht

Foto: Matthias Horn

Das Gesicht ist der andere, und in seinem Licht entstehen wir. Ohne das Gesicht sind wir niemand, und wenn wir niemand sind, dann sind wir tot, und wenn wir tot sind, können wir alles tun. Mit dem Gesicht, das uns sieht und das wir sehen, können wir nicht alles tun. Das Gesicht verpflichtet. Deshalb sagt Gott: Erhebe es. Verpflichte dich. Aber Kain erhebt es nicht, er verpflichtet sich nicht, er überschreitet das Soziale und mordet. Diese Überschreitung wirkt sich auf das Soziale aus, denn er tötet seinen Bruder, der in dieser archaischen Welt sein eigenes Blut ist. Und die eigene Gewalt ist die gefährlichste, weil es nahezu unmöglich ist, sich gegen sie zu wehren; sie kommt vom Wir, nicht von dem Fremden, nicht vom Es, sondern von dem Du mit dem gesenkten Gesicht.

Brudermorde geschehen bis heute in unserer Welt, ein Bruder tötet einen Bruder an irgendeinem Ort in Afrika, Asien, Europa, gestern, heute, morgen; es geschieht und anschließend verschwindet das Ereignis. Nichts im Menschlichen hat sich seit biblischer Zeit verändert, wir werden geboren, wir lieben und hassen, wir sterben. Doch das Archaische an uns und an dem, was wir tun, wird vom Alltäglichen aufgesogen, von der Gegenwartskultur, die wir erschaffen haben und alle gemeinsam bilden, in der die Wirklichkeit in erster Linie horizontal ist und das Vertikale sich nur kurz und in Ausnahmefällen erkennen lässt. Im Grunde muss man lediglich einen Blick nach oben werfen, um es zu erfassen, denn dort hängt die Sonne und brennt, und es ist die gleiche Sonne, die für Kain und Abel, Odysseus und Aeneas brannte. Die Berge vor unseren Augen sind ein Teil des gleichen schwindelerregenden Alters. Dass wir nur das letzte Glied eines Geschlechts sind, das sich tausende von Generationen in die Vergangenheit erstreckt, die so fühlten wie wir, da das Herz, das in ihnen schlug, auch in uns schlägt, ist keine Perspektive, die wir uns zu eigen machen können oder wollen, denn in ihr wird das Einmalige ausgelöscht und wir werden zu einem Schauplatz der Gefühle oder Handlungen, wie das Wasser Schauplatz der Wellen und der Himmel Schauplatz der Wolken ist. Wir wissen, dass jede Wolke einmalig ist, genau wie jede Welle, sehen aber nur Wolken, nur Wellen. Darauf zielen die Mythen ab, denn sie handeln zwar vom Einzelnen, aber was der Einzelne ausdrückt, gilt für alle. Kains Wut brennt, er senkt sein Gesicht. Kain lässt sich von Hass übermannen und wird blind, er stürzt sich auf den eigenen Bruder und ermordet ihn. In diesem Mythos geht es um Kräfte im Menschlichen, die sich nicht in die Identität des Einzelnen oder in das Soziale einordnen lassen, sondern zum Ausbruch kommen und verwüsten. Es geht um etwas jenseits aller Kontrolle mitten im Menschlichen, das wir fürchten und dem wir bebend gegenüberstehen, nicht unähnlich der Art unserer Reaktion, wenn wir dem Sublimen in der Natur begegnen. Dies ist das Sublime in der menschlichen Natur, das Unberechenbare und Wilde und Zerstörerische, das sich weder vom Individuum noch vom Sozialen kontrollieren lässt und im einzelnen Menschen zutage tritt, der wir alle sind. Das ist das Sublime im Einzelnen. Andererseits findet man das Sublime in ihnen allen, wenn die Zahl der Menschen so groß ist, dass es von ihnen wimmelt. Der Aufschrei aus einem Fußballstadion, die Bewegung durch die Straßen bei einer riesigen Demonstration. Gemeinsam ist diesen beiden Möglichkeiten des Sublimen im Menschlichen, dass sie an den Bereich angrenzen, an dem das Individuelle und Eigene, das Ich des Menschen aufhört. Wo sich das Menschliche mit den anderen Kräften der Natur verbindet und die Kontrolle über sich selbst verliert. Das ist die Grenze des Ichs und die Grenze der Kultur, die zu Recht gefürchtet wird. Wenn das Archaische vom Alltäglichen aufgesogen wird und die brennende Sonne unsere Sonne ist, leben wir innerhalb der Kultur, die unablässig daran arbeitet, eine Vorstellung zu bestätigen, die kontinuierlich alles zum bereits Bekannten zieht, während sich die Kunst in ganz anderem Maße dem zuwendet, was sich jenseits der Grenze von Ich und Kultur befindet, dem Unbekannten und dem, was früher das Göttliche genannt wurde. Der Tod ist das Tor zu diesem Land, aus dem wir kommen und in das wir früher oder später zurückkehren werden. Es liegt außerhalb der Sprache, außerhalb des Denkens, außerhalb der Kultur, und lässt sich nicht greifen, nur erahnen, zum Beispiel, sobald wir uns dem in uns Stummen und Blinden zuwenden. Es ist immer da, selbst wenn wir an einem gewöhnlichen Dienstagmorgen frühstücken und der Kaffee ein bisschen zu stark ist und Regentropfen an der Fensterscheibe herablaufen und im Radio die Siebenuhrnachrichten beginnen und der Fußboden im Wohnzimmer mit Spielzeug übersät ist, selbst dann pocht das Herz – der Muskel des Archaischen – Blut durchs Fleisch. Die Kultur ist erschaffen worden, um diesem Blickwinkel zu entkommen, um von dem Abgrund wegzuschauen, an dessen Kante wir leben, aber diese Gegenwartskultur, die nur eine Perspektive von zwei Generationen auf das Leben hat und sich mit der unmittelbar vergangenen Geschichte beschäftigt, mit dem, was man früher Menschengedenken nannte, hat nie alleine geherrscht, in der Kultur hat immer auch eine andere Zeit geherrscht, die Zeit, in der sich nichts verändert, alles gleich ist, die Zeit der Mythen und Riten. Dieser Aspekt unserer Wirklichkeitsauffassung mag für uns verschwunden sein, was aber noch lange nicht heißt, dass er aus der Wirklichkeit verschwunden ist. Was tat Hitler, als er sich in jungen Jahren von den Menschen zurückzog? Er sah niemanden, niemand sah ihn. Selbst in späteren Jahren ging er keine Verbindung zu einem Du ein; wenn er gesehen wurde, dann immer von einer Masse, von einem alle, von einem wir, und wenn er schrieb, war es genauso: In Mein Kampf gibt es ein Ich und ein Wir und ein Sie, aber es gibt kein Du.

Und er senkte das Gesicht.

Erhebe es.

Die Geschichte von Kain und Abel handelt vom Wegfall des Du als Grund für die Gewalt, und der Leser kann es dabei belassen oder sich darin vertiefen, denn es geht nicht nur um einen Bruder, der einen anderen tötet, sondern auch um ein Opfer: Kain ermordet Abel, nachdem Gott Abels Opfer gelobt hat, ein Tieropfer, und Kains Fruchtopfer ignoriert hat. Der französische Anthropologe René Girard liest den Text als Ausdruck für die Funktion des Opfers in Beziehung zur Gewalt. Das Opfer stellt die Gewalt aus und tritt an ihre Stelle, es ist ein Weg, sonst ungebändigte Kräfte in einer Gesellschaft zu kontrollieren; Kain steht außerhalb des Opfers und tötet seinen Bruder. Die stellvertretende Funktion des Opfers zeigt sich in der Geschichte von Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern will, als Gott ihm Einhalt gebietet und ihn bittet, stattdessen einen Widder zu opfern. Dieser Widder, schreibt Girard, ist einer muslimischen Tradition nach derselbe Widder, den Abel einst opferte. Das Opfer ist ein Ritual, es ist kollektiv und versteht die Gewalt als etwas Kollektives.

Der Opfergedanke ist mythisch und spielt in primitiven Kulturen eine zentrale Rolle, ist in entwickelteren wie der unseren jedoch weggefallen, in der Gewalt individuell verstanden wird, entstanden in bestimmten Situationen unter bestimmten Menschen, in der Obhut des Rechtswesens, das schuldige Individuen bestraft. Das wichtigste Ziel des Sozialisierungsprozesses in einer Gesellschaft besteht darin, das Individuum dahin zu bringen, seine Impulse, Gefühle und Handlungen selbst kontrollieren zu können, um dem zu entgehen, was alle Strukturen und Gruppierungen zerstört und auflöst, die eigene Gewalt, und wenn das dem Individuum nicht gelingt und es jemanden aus der Gemeinschaft tötet, wird es von ihr durch die Justiz bestraft. Das Verbot eigener Gewalt gilt überall, eine Gesellschaft ohne es ist nicht vorstellbar. In primitiven Gesellschaften ist die Trennung zwischen Ich und Wir nicht ganz so klar, Unterschiede schaffende und Regeln formulierende Institutionen existieren häufig nicht und das Wissen um die Gefahr der eigenen, der inneren Gewalt ist vielleicht gerade deshalb ausgeprägter, da die Gemeinschaft ihren Konsequenzen weitaus verletzlicher gegenübersteht. Girard erläutert, hinter sämtlichen Tabus stehe der Wunsch, die eigene Gewalt in den Griff zu bekommen, sie seien eine Methode, all dem zu entgehen, was sie zum Leben erwecken könnte. Die Rituale stehen dann für das Gegenteil, sie sind Wege, sich dem Punkt zu nähern, an dem die Kräfte unter Kontrolle sind, da die Wiederholungen der Rituale die Zufälle aufheben und die Gefühle beherrschen.

14.03.2024, 10:45

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