Planetare Praxis im Anthropozän

Zur Veranstaltung Ein Bestandteil der Versuchsanordnungen Koki Tanakas ist die kontinuierliche Präsenz von Kameras: Mit dem Filmen und Gefilmt-Werden unterbricht er die Selbstverständlichkeit der Abläufe und lenkt den Blick auf die konkreten Gesten des Zusammenseins
Planetare Praxis im Anthropozän

Foto: Koki Tanaka

„Selbst planetar zu werden bedeutet, das Planetare nicht als einen einheitlichen und unverrückbaren Zustand zu verstehen, sondern vielmehr als verschiedene Zustände der Differenz, aus denen sich gemeinschaftliche Verantwortlichkeiten und Möglichkeiten ergeben.“ – Jennifer Gabrys, Kuratorin von Where is the Planetary. A Gathering

In der Gegenwart erscheint der Planet Erde wie eine anthropogene Skulptur. Keine Landschaft, keine Sphäre, die nicht von menschlichen Aktivitäten um- und überformt wurde. In Sedimenten, Eisschilden und Ozeanen lassen sich die Spuren von Technologien, Wirtschaftsweisen und Kosmologien ablesen. Globale Produktionsketten und Ausbeutungsverhältnisse zeugen von gewaltsamen Prozessen kolonialer Landnahme. Die Herausforderungen des Anthropozäns lassen sich daher nur durch eine planetare Perspektive verstehen, die um gesellschaftliche und geophysikalische Zusammenhänge und Rückkopplungseffekte weiß.

Where is the Planetary? fragt nach der Gestaltbarkeit dieser Zusammenhänge. Dabei betrifft die Frage nach dem Wo? des Planetaren weniger die Topografie als die Topologie. Denn das Planetare ist nur einerseits eine Kategorie des Maßstabs und andererseits eine Form der Beziehung. Der skalierende Blick von außen läuft stets Gefahr, Macht und Machbarkeit zu suggerieren. Dieser Blick trägt jedoch das Scheitern einer spezifischen Kosmologie in sich, in der die Erde unerschütterlich für Landnahme und Ausbeutung zur Verfügung steht. Pandemie(n), Ressourcenkonflikte, Klimawandel und Krieg begleiten nun ein neues Verständnis von der Erde als Planeten, der so fragil wie wandlungsfähig ist. Eine daran ausgerichtete Perspektive ist daher sensibel für kosmologische Vielfalt, sie unterläuft das anthropozentrische Weltbild, und entwickelt eine interdependente Vorstellung von irdischem Leben auf dem Planeten.

Vor diesem Hintergrund begibt sich Where is the Planetary? auf die gemeinschaftliche Suche nach einem Modell für ein gelingendes Zusammenleben. Es geht dabei weniger darum, einen planetary gaze einzuüben, als darum, ein planetary gathering einzurufen, das um die eigene Involviertheit weiß, die Vielstimmigkeit der planetaren Beziehungen kennt und eine gemeinsame Praxis fordert. Die im Anthropozän ausgelösten und drastisch beschleunigten erdsystemischen Prozesse führen überdeutlich vor Augen, dass der Planet nicht Gegenstand ist, sondern Beziehungsgeflecht; ein Zusammenspiel aus unterschiedlichsten Konstellationen des Zusammenlebens, aus Freundschaft und Biom, aus Tausch und Raub, aus Küche und Krankenhaus, aus Markt und Labor. In diesem Sinne bedeutet planetare Praxis immer Beziehungsarbeit.

Als Denkstil hat das Planetare eine lange und variantenreiche Geschichte holistischer Betrachtungsweisen, die jenseits der Konzepte von Welt, Erde und Globus die Bezüge und Verhältnisse menschlicher Existenz im Universum in den Fokus genommen haben. In der jüngeren Geschichte sind dies beispielsweise die Terraforming-Hypothesen des Astronomen Carl Sagan und das „Spaceship Earth“- Konzept des Designtheoretikers Richard Buckminster Fuller oder die postkolonial geprägten Perspektiven von Denker*innen wie Gayatri Chakravorty Spivak oder Dipesh Chakrabarty bis hin zur Beschäftigung mit planetaren Formen der Governance durch Bruno Latour.

Auf der Suche nach einem de-zentrierten und anti-autoritären Zugang zum Planetaren bietet vor allem das Motiv des „Menschseins als Praxis“ der jamaikanischen Philosophin Sylvia Wynter einen Orientierungspunkt. Eine Praxis, die ständig neue Arten und Wege der Kollaboration entwirft. Im Kern löst die Hinwendung zum Planetaren das anthropozentrische Weltbild auf und schlägt stattdessen eine interdependente Vorstellung von irdischem Leben auf dem Planeten vor. Sich dem Planetaren anzunähern und die Möglichkeit einer solchen Praxis zu behaupten, verstehen wir mit Where is the Planetary? als Versuch und als Einladung.

Voraussetzung für diesen Versuch ist die Auseinandersetzung mit Kosmologien, die dem Planetaren Geschichte, Raum und Bedeutung verleihen. Kosmologien setzen das Menschsein ins Verhältnis zu den geophysikalischen und biologischen Bedingungen des Lebens und prägen damit jede Möglichkeit und Form einer planetaren Praxis. In Kosmologien verdichtet sich das Zusammenspiel aus Materie und Symbol, aus Biologie und Bedeutung, das menschliches Leben und Zusammenleben charakterisiert. Sie sind paradigmatisch für die menschliche Eigenschaft, durch die kollaborative Produktion von Wissen, seiner Weitergabe und Anwendung auch auf die materielle Umwelt einzuwirken. Wir denken, dass die Anerkennung der Wirkmächtigkeit dieser kosmologischen Ordnungen und Erzählungen wesentlich ist für die Suche nach Modellen für ein gelingendes zwischenmenschliches und spezies-übergreifendes Zusammenleben.

Where is the Planetary? fragt, wie eine nachhaltige planetare Bewohnbarkeit kompositorisch und kosmologisch ausgedrückt werden kann, als politische Forderung wie als geophysikalische Realität. Die Veranstaltung sucht nach Koordinaten und Überschneidungen, Konvergenzen und Spannungen, die entstehen, wenn sich unzählige Kosmologien um eine gemeinsame planetare Kosmologie gruppieren.

[Auszug aus dem Statement der Kuratorin]

14.10.2022, 07:00

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