„Planetares Denken kann motivierend sein“

Interview Koki Tanaka hat experimentelle Settings entworfen, in denen die Teilnehmer*innen Perspektiven und Praktiken entwickeln, die nicht nur die erdsystemischen Prozesse des Planeten, sondern auch Weltbilder berücksichtigen. Hier erläutert er seinen Ansatz
„Planetares Denken kann motivierend sein“

Foto: Koki Tanaka

Wie erkunden Sie in Ihrer künstlerischen Praxis Gemeinsamkeit und Zusammenarbeit?

In meiner Praxis bringe ich Menschen mit einer bestimmten Fähigkeit – etwa Pianist*innen oder Töpfer*innen – zusammen, um gemeinsam etwas herzustellen, um einen utopischen Moment der Zusammenarbeit zu finden. Oder wir erkunden in zeitlich begrenzten Versammlungen das kollektive Wissen zur Frage, wie wir in den jüngsten Fluchtkrisen als Bürger*innen zusammenleben können. Die Idee der Gemeinsamkeit klingt auf Anhieb positiv, doch sie hebt auch die Komplexität der menschlichen Existenz hervor. Mit jemandem zusammen zu sein, bedeutet, die eigenen Muster zu verlassen und sich kopfüber in Verhandlungsprozesse mit anderen oder mit einer unbekannten Situation zu begeben. Zusammen zu sein, steckt voller Unmöglichkeiten. Meistens stehen wir einander entweder feindlich oder vertraut gegenüber. Ich frage mich immer: Ist es möglich, eine kritische Distanz zu jemandem zu wahren und dennoch offen für die Person zu sein? Unser Potenzial liegt womöglich irgendwo zwischen enger Freundschaft und Feindseligkeit.

Wie schlagen Sie den Bogen zwischen der Mikroebene der Gruppendynamik, die Sie in Ihrer Praxis erkunden, und dem breit angelegten Konzept des Planetaren, um das es in diesem Projekt geht?

Ich denke, es sind Aspekte derselben Sache, aber aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Diese Welt setzt sich aus einer Anhäufung von Einheiten zusammen, die aus kleinen Gruppen bestehen. Wir sprechen dabei von Freund*innen, Paaren, Familie, Nachbarschaft, Gesellschaft, Nationalstaat usw. Konkret umfasst eine solche Akkumulation auch nicht-menschliche Wesen wie Katzen oder Alltagsobjekte. Viele Menschen – einschließlich mir selbst – denken an Katzen als Teil ihrer Familie und hängen an gesammelten Objekten wie beispielsweise Steinen. Letztlich können wir sagen, dass das Gesamtgefüge all dieser Einheiten das Planetare darstellt; der Unterschied liegt nur darin, worauf wir unseren Fokus richten. Die Gesellschaft ist auf der Mikroebene mit dem Planetaren verknüpft. Meine Praxis kann eines der Elemente in einem solchen Gefüge werden. Im Prinzip will ich damit die Perspektive eines planetaren Denkens unterstützen.

Welche Elemente (räumlich, gesellschaftlich, institutionell usw.) prägen oder bestimmen spezifische Formen der Gemeinsamkeit und Zusammenarbeit?

Ich nutze das Format eines Workshops mit Alltagstätigkeiten, um Raum für Zusammenkünfte und Zusammenarbeit zu eröffnen. Die laufende Filmkamera kann dabei als Mittel dienen, sich die eigenen Handlungen bewusst zu machen. Als Künstler, der die übergreifende Struktur von Where is the Planetary? als Live-Event gestaltet, nutze ich solche Zusammenkünfte und Videoaufnahmen, um eine komplexe Situation menschlichen Handelns zu erzeugen.

Was bedeutet Ihnen das Medium Film? Was kann es in Menschen – Teilnehmenden, Filmemacher*in und (später) Zuschauer*innen – hervorrufen?

Dass die von mir organisierten Zusammenkünfte zugleich Film-Sets sind, fügt der Veranstaltung eine weitere Ebene hinzu. Für die Teilnehmenden kann diese Ausgangssituation als Werkzeug oder Sprungbrett dienen. Die Anwesenheit der Kameras macht uns bewusst, dass unsere Handlungen aufgezeichnet werden. Gewöhnlich nehmen wir unsere Präsenz nicht so deutlich wahr. Die Kamera lässt uns darauf achten, was wir sagen, was wir tun und sogar, was wir sind. Nicht nur die Teilnehmenden, Moderator*innen und Zuschauer*innen, sondern auch die Film-Crew, das Personal vom HKW und ich selbst: Wir alle werden uns unserer Präsenz sehr bewusst. In einer solchen Situation können alle aus ihrer täglichen Routine ausbrechen. Ich hoffe, dass dies Gelegenheiten schafft, um Dinge zu sagen, die zuvor nicht gesagt werden konnten; etwas zu sehen, was zuvor nicht gesehen werden konnte. Und schließlich, dass es uns kollektiv unsere Ungewissheit bewusst macht. Zum Genre Film habe ich eine bestimmte Vorstellung vor Augen: Bewegtbilder können als Dokumente menschlicher Aktivität angesehen werden: Kino, YouTube, Smartphones usw. Nicht-menschliche (oder Alien-)Archäolog*innen oder Anthropolog*innen der Zukunft können Überbleibsel – vielleicht auch nur Fragmente – dieses riesigen Bestands finden, wenn es die Menschen nicht mehr gibt. Dieses Material ist dann ein Beleg, dass es in der Vergangenheit Menschen gegeben hat, ein Beweis unserer Präsenz. Dieses Filmdokument der Live-Veranstaltungen am HKW könnte eines der künftigen Archive der menschlichen Aktivität werden.

In älteren Arbeiten haben Sie sich mit der Situation in Japan nach dem Tsunami und nach der nuklearen Katastrophe von 2011 beschäftigt – und damit, wie die japanische Gesellschaft diese Ereignisse verarbeitet hat. Welche Rolle kann Ihres Erachtens die Kunst im Umgang mit Naturkatastrophen und mit den durch die Klimakrise zunehmenden Gefahren spielen?

Auf den ersten Blick kann Kunst keine Probleme lösen, weil die Funktion von Kunst ist, die Dinge zu entfunktionalisieren. Daraus folgt, dass ein Museum ein Ort ist, wo etwa Gemälde oder Skulpturen gezeigt werden, die aus ihrem religiösen Kontext entlehnt wurden. Ich sehe das aber nicht als einen negativen Prozess. Direkt nach einer Katastrophe ist die Kunst für die betroffene Gesellschaft unnütz. Es werden Menschen gebraucht, die helfen und Unterstützung leisten. Später jedoch, wenn der Alltag zurückkehrt, kann die Kunst nützlich sein. Ich erinnere mich, dass in Japan Menschen in einer bestimmten Haltung gefangen waren: Es gab jene, die legitimerweise über die Katastrophe sprechen durften und jene, die das nicht durften. Diejenigen, die nicht legitimiert waren, wurden in den sozialen Netzwerken angegriffen, was zu einer Kluft zwischen den Menschen führte. Langsam aber verblasste die Erfahrung der Katastrophe und die Atomkraftwerke wurden wieder aktiviert. Rechte Politik erlebte einen Aufschwung, der Rassismus wurde schlimmer und im Nachklang der Katastrophe begann die Gesellschaft weiter auseinanderzudriften. In einem solchen Moment kann die Kunst zur Stelle sein, um einen Zwischenraum zu eröffnen, um Menschen mit verschiedenen Meinungen ins Gespräch zu bringen und am Ende den Sinn für gegenseitige Fürsorge wiederzubeleben.

Was bedeutet das Planetare für Sie?

Die meisten meiner Projekte haben die Gruppendynamik unter Menschen in den Blick genommen. Ich habe mich bisher nicht sehr intensiv mit planetaren Perspektiven auf das menschliche Dasein beschäftigt – etwa das Posthumane oder das Zusammenwirken zwischen Menschen und Nicht-Menschen. Doch ist dies die Linse, durch die ich das „planetare Denken“ interpretiere, das in Where is the Planetary? vorgestellt wird. Ich denke es als eine Klärung der Parameter unseres herkömmlichen Denkens. Es öffnet unsere Augen weit für den Planeten (oder „die Welt“) und die menschliche Existenz. Die Situation der Gemeinsamkeit, um die meine Praxis zumeist kreist, kann ein Ort sein, um menschliches Handeln neu zu erkunden und menschliche Beziehungen neu zu denken. In diesem Sinne bedeutet planetares Denken für mich, Menschen zu motivieren, sich mit der Ungewissheit unserer Existenz und unserer Zukunft zu konfrontieren.

14.10.2022, 07:00

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