„Normal“: Ein Konstrukt, das es nicht gibt

Director's Note Die kleine Uli will Pirat oder Papst werden und auf keinen Fall in die Rollenstereotypen ihres bayerischen Heimatortes passen. Nach dem Tod des Vaters bekommt sie von der Mutter seine „geheime“ Kiste ausgehändigt – und schlagartig ändert sich alles
Eine makellose bürgerliche Familie?
Eine makellose bürgerliche Familie?

Foto: Flare Film/Privatarchiv Familie Decker

Als ich aufwuchs, war mir klar, dass einem bestimmte Dinge auf keinen Fall über die Lippen kommen dürfen, weil man sie noch nie jemanden sagen gehört hat. Das Unsagbare wird unfühlbar, undenkbar, unsichtbar, unlebbar – verbannt in die geheimen Winkel, die sich mit niemandem teilen lassen. Dort bleibt jeder einsam, während an der Oberfläche ein anderes Stück aufgeführt wird. Schweigen und Scham graben sich in jede Körperzelle und prägen uns, auch wenn wir gar nichts von ihrer Ursache wissen.

Seit mein Vater starb und ich sein Geheimnis erfuhr, hatte ich einerseits das Gefühl, dass das Leben mir eine Geschichte gegeben hatte, die erzählt werden müsse, andererseits versuchte ich, ihr zu entkommen. Doch sie holte mich immer wieder ein. Daraus einen Dokumentarfilm zu machen, war für mich lange Zeit schwer vorstellbar, denn ich hatte Panik, meine Familie und mich dadurch bloßzustellen und allzu Privates auszuplaudern.

Beim Ringen um die Form half mir die Entscheidung, mit Fantasie und Humor zu spielen und den teils tragischen Inhalt auf formaler Ebene in einen hybriden, queeren, teils barocken, letztlich lebensbejahenden Film zu übersetzen. Wichtig war mir vor allem, die Zuschauer auf eine innere Reise mitzunehmen, die enge Kategorien sprengt und den Blick öffnet für tiefe menschliche Erfahrungen und den weiten Sehnsuchtshorizont.

– Uli Decker, Regisseurin von Anima – Die Kleider meines Vaters

18.10.2022, 08:58

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Zum Film „Anima – Die Kleider meines Vaters“ ist eine wahre Geschichte über Familiengeheimnisse, Geschlechterrollen und eine Kindheit in der bayrischen Provinz – erzählt als tragisch-komische Achterbahnfahrt durch animierte und dokumentarische Bilderwelten
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Netzschau Stimmen aus dem Netz: „Uli Decker ist ein sehr persönlicher, zu Herzen gehender Film gelungen, der auch stilistisch überzeugt: Mit einer Collagetechnik hat sie Familienfotos neu zusammengebastelt. Die Animationen ziehen sich durch den ganzen Film.“

Anima | Trailer

Video Die kleine Uli träumt von einem abenteuerlichen Leben als Pirat, Indianerhäuptling oder Papst. Mit ihrer hartnäckigen Weigerung, sich den gängigen Rollenstereotypen zu unterwerfen, wird sie sogar in ihrer eigenen Familie zur Außenseiterin


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