Sensibler Beobachter: Nicolas Philibert

Interview Der Franzose gehört seit seinem Publikumserfolg „Sein und Haben" zu den großen Dokumentarfilmemachern Europas. „Für Auf der Adamant" wurde er auf der Berlinale 2023 mit dem dem Goldenen Bären, ausgezeichnet.
Ein wertschätzender Blick auf seelisch Erkrankte ist grundlegend für Nicolas Philiberts Erzählweise
Ein wertschätzender Blick auf seelisch Erkrankte ist grundlegend für Nicolas Philiberts Erzählweise

WIE KAM ES ZU DIESEM FILM?

Ich habe vor gut fünfzehn Jahren zum ersten Mal von der Adamant gehört, als es sich noch um ein Projekt handelte. Damals war die klinische Psychologin und Psychoanalytikerin Linda de Zitter, der ich seit den Dreharbeiten zu NICHTS ALS KLEINIGKEITEN in der psychiatrischen Klinik La Borde im Jahr 1995 sehr nahe stehe, in das aufregende Abenteuer der Entstehung der Adamant involviert: Monatelang trafen sich Patient*innen und Betreuer*innen mit einem Architektenteam, um die wichtigsten Elemente zu definieren. Und was als utopischer Traum begann, wurde schließlich Wirklichkeit.

Jahre später, vor etwa sieben oder acht Jahren, hatte ich zum ersten Mal die Gelegenheit, die Adamant zu besuchen. Der Rhizome-Workshop lud mich ein, über meine Arbeit zu sprechen. Rhizome ist ein Gesprächskreis, der jeden Freitag in der Bibliothek stattfindet. Von Zeit zu Zeit, fünf oder sechs Mal im Jahr, wird ein Gast eingeladen: ein Musiker, eine Romanautorin, eine Philosophin, ein Ausstellungskurator... An diesem Tag verbrachte ich zwei Stunden vor einer Gruppe, die sich auf meinen Besuch vorbereitet hatte, indem sie sich einige meiner Filme ansah und mich immer wieder aus meiner Komfortzone zwang. Seit meinen Anfängen als Filmemacher habe ich viele Gelegenheiten gehabt, vor Publikum zu sprechen, aber dieses Mal hat es mich besonders beflügelt, angespornt durch die Bemerkungen der Anwesenden.

Der Wunsch, einen weiteren Film in der Welt der Psychiatrie zu drehen, um zu sehen, „wer ich sonst noch bin“, wie Linda de Zitter es ausdrücken würde, hatte mich schon lange begleitet. Dieser Tag auf der Adamant hat mich in diesem Wunsch bestärkt. Einige Patient*innen und Betreuer*innen hatten sicherlich sehr hohe Erwartungen! Ich musste jedoch einige Jahre warten, bis ich mit dem Film beginnen konnte, da ich mich damals auf ein anderes Projekt konzentrieren musste.

WARUM WOLLTEN SIE JAHRE NACH DEN DREHARBEITEN IN DER KLINIK LA BORDE EINEN WEITEREN FILM IN DER WELT DER PSYCHIATRIE DREHEN?

Ich habe die Psychiatrie immer sehr aufmerksam verfolgt und mich sehr dafür interessiert. Es ist eine Welt, die sowohl beunruhigend als auch, wenn ich wagen darf, das so zu sagen, sehr anregend ist, da sie uns ständig dazu zwingt, über uns selbst, unsere Grenzen, unsere Fehler und die Art und Weise, wie die Welt funktioniert, nachzudenken. Die Psychiatrie ist eine Lupe, ein vergrößernder Spiegel, der viel über unsere Menschlichkeit aussagt. Für einen Filmemacher ist sie ein unerschöpfliches Feld.

Darüber hinaus hat sich die Situation der öffentlichen Psychiatrie in den letzten fünfundzwanzig Jahren erheblich verschlechtert: Budgetkürzungen, Schließung von Betten, Personalmangel, Demotivierung der Teams, baufällige Räumlichkeiten, mit Verwaltungsaufgaben überforderte Pfleger*innen, die oft auf die Rolle von Wärter*innen reduziert werden, die Rückkehr zu Isolationszimmern und Zwangsmaßnahmen. Dieser Niedergang war zweifellos eine zusätzliche Motivation.

Es hat nie ein goldenes Zeitalter gegeben, aber von allen Seiten hört man, dass die Psychiatrie am Ende ihrer Kräfte ist und von den Behörden völlig im Stich gelassen wird. Es ist, als ob wir die „Verrückten“ nicht mehr sehen wollten. Über sie wird nur noch durch das Prisma ihrer Gefährlichkeit gesprochen, die zumeist herbeiphantasiert wird. Die sicherheitsorientierte Rhetorik eines großen Teils der politischen Klasse und einer bestimmten Presse, die einige isolierte Vorfälle schamlos ausschlachten, hat damit offensichtlich zu tun. In diesem Kontext erscheint ein Ort wie die Adamant wie ein kleines Wunder, und man muss sich fragen, wie lange er noch bestehen wird.

WAS SIE ÜBER DEN NIEDERGANG DER PSYCHIATRIE SAGEN, IST IN DEM FILM NICHT ZU ERKENNEN. BEDEUTET DAS, DASS DIE ADAMANT VON DEN VERWÜSTUNGEN, DIE DEN BEREICH GETROFFEN HABEN, VERSCHONT GEBLIEBEN IST?

Die Adamant hat es geschafft, ein lebendiger und attraktiver Ort zu bleiben, sowohl für die Patient*innen als auch für das Personal, weil sie sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruht. Sie ist ein Ort, der in ständigem Kontakt mit der Außenwelt steht, offen für alles, was geschieht, und der alle Arten von Mitwirkenden willkommen heißt. Unsere Filmaufnahmen sind ein erhellendes Beispiel dafür.

Darüber hinaus ist es ein Ort, der sich bemüht, an sich selbst zu arbeiten, ganz im Sinne der „institutionellen Psychotherapie“, jener Denkströmung mit dem etwas barbarischen Namen, die vorschreibt, dass die Institution, um sich um die Menschen zu kümmern - und die Sehnsucht am Leben zu erhalten -, gepflegt werden muss, dass sie unerbittlich gegen alles kämpfen muss, was sie bedroht: Wiederholung, Hierarchie, übermäßige Vertikalität, Rückzug, Trägheit, Bürokratie... Und der Ort selbst ist sehr schön, was viel ausmacht: die Räume, die Materialien, die Lage, die Nähe zum Wasser, während ähnliche Einrichtungen zwar nicht immer düster und kalt sind, sich aber meist damit begnügen, funktional zu sein.

WARUM HABEN SIE DANN EINEN ORT GEWÄHLT, DER NICHT REPRÄSENTATIV FÜR DIE SITUATION IST, DIE SIE BESCHREIBEN? BESTEHT NICHT DIE GEFAHR, DASS SIE EIN SEHR EINSEITIGES BILD DER PSYCHIATRIE ZEICHNEN?

Welche Psychiatrie? Es gibt keine „eine“ Form der Psychiatrie, sie ist plural, vielfältig und muss immer wieder neu betrachtet werden. Ich wollte eine menschliche Psychiatrie zeigen, die immer noch Widerstand leistet und die stark bedroht ist. Sie wehrt sich gegen alles, was anderswo in der Gesellschaft zerstört wird, und versucht, würdevoll zu bleiben. Dies ist nicht ein Film, der explizit Dinge anprangert. Indem er die entgegengesetzte Richtung einschlägt, tut er dies aber implizit. Wie der Regisseur und Filmkritiker Jean-Louis Comolli kurz vor seinem Tod schrieb, „besteht die wahre politische Dimension des Kinos darin, dafür zu sorgen, dass die Würde der Menschen von anderen anerkannt wird, zwischen der Leinwand und dem Publikum“.

Die Adamant ist ein untypischer Ort, aber er ist nicht der einzige. Und das Adamant-Team ist auch nicht das einzige Team, das beim Umgang mit den Herausforderungen Fantasie zeigt, wir dürfen das nicht glorifizieren. Die Suche nach einem beispielhaften Ort ist nicht mein Hauptanliegen. Als ich NICHTS ALS KLEINIGKEITEN drehte, war die Klinik La Borde auch nicht repräsentativ für die Psychiatrie ihrer Zeit, und ist es auch heute nicht. Das sind Orte, die experimentieren. Sie gehen Risiken ein. Wir müssen uns von Klischees lösen, um dem Publikum zu zeigen, dass Zurückhaltung keine Lösung ist, und das Bild von psychisch Kranken, das so entwürdigend ist, ändern. Die Grundlage ist die menschliche Beziehung. Sie ist alles, was aufgebaut wird, alles, was versucht wird, mit verschiedenen Mitteln, ohne eines auszuschließen, damit die Begegnung stattfinden kann. Es gibt kein Rezept, keinen Zauberstab. Die „menschliche“ Psychiatrie - ein Pleonasmus? - ist eine Psychiatrie, die sich abmüht, die maßgeschneiderte Lösungen findet. Sie betrachtet die Patient*innen als Subjekte, erkennt ihre Einzigartigkeit an, ohne sie um jeden Preis domestizieren zu wollen.

MIT WELCHER HERANGEHENSWEISE HABEN SIE DIE DREHARBEITEN BEGONNEN?

NICHTS ALS KLEINIGKEITEN hat mir sehr geholfen. Der Film hat mich weit gebracht und mir ermöglicht, mich von einer Reihe von Vorurteilen zu befreien. Damals zögerte ich sehr, einen Film über die Psychiatrie zu machen: Wie könnte ich Menschen filmen, die durch ihr Leiden am Boden liegen, ohne sie auszubeuten, ohne die Macht zu missbrauchen, die die Kamera unweigerlich demjenigen verleiht, der sie hält? Menschen, bei denen der Anblick einer Kamera oder eines Mikrofons ein Gefühl der Verfolgung verstärken oder ein Delirium hervorrufen kann? Wie kann man vermeiden, das Leiden zum Spektakel zu machen, nicht in Folklore und Selbstgefälligkeit zu verfallen? Aber sobald ich dort war, haben die Begegnungen alles verändert. Die Antworten kamen von den Patient*innen selbst. Sie ermutigten mich, mich meinen Skrupeln und Zweifeln zu stellen, und halfen mir, sie zu überwinden. Einige sagten: „Haben Sie Angst, uns auszubeuten? Was denken Sie? Wir mögen verrückt sein, aber wir sind nicht dumm!“

Heute, im Zeitalter der sozialen Netzwerke, wo wir ermutigt werden, alles zu sagen und zu zeigen, sind diese Fragen nicht weniger relevant. Filme müssen ihre Geheimnisse bewahren, nicht alle Fragen beantworten. Es ist mir wichtig, dieser Aufforderung zu widerstehen, diesem Ruf danach, „alles sichtbar“ zu machen, der in unserer Welt überhandnimmt.

WAS WAREN IHRE GRUNDLEGENDEN VORSÄTZE?

Ich wollte mich vor allem frei fühlen und mir nichts auferlegen. Ich wollte mich nicht zu sehr um die Architektur des Films kümmern müssen, weil ich überzeugt war, dass die Einheit des Ortes zusammen mit den identifizierbaren und wiederkehrenden „Figuren“ ausreichen würde, um den Kitt zu bilden und eine freie Konstruktion zu ermöglichen. Ich folgte den Personen, verlor sie, fand sie später wieder, filmte ein Treffen, einen Workshop, die Begrüßung eines Neuankömmlings, filmte private Gespräche, informelle Begegnungen: an der Rezeption, an der Bar, in der Küche, auf der Terrasse, zwischen zwei Türen, fing einen spontanen Austausch ein, einen Monolog, ein Wortspiel, und hielt all diese kleinen Details fest, die man trivial, exzentrisch, anekdotisch oder einfach idiotisch finden könnte und die das Gewebe des Films werden würden, den wir drehten.

Ich habe schon immer gern improvisiert, und im Laufe der Zeit ist die Improvisation für mich zu einer ethischen Notwendigkeit geworden. Vor allem: nichts erklären. Es vermeiden, den Film einem Programm zu unterwerfen, einer bereits existierenden Idee, die zum Ausdruck gebracht werden muss. Jede Andeutung von Absicht aufspüren

Außerdem läuft nie etwas nach Plan, die Anwesenheit einer Kamera mischt die Karten immer neu. Einen Dokumentarfilm zu machen bedeutet, sich mit dem Zufälligen zu beschäftigen, mit allem, was sich der Vorhersage entzieht. Die schönsten Szenen sind oft die, die sich überraschend und unvorhergesehen ergeben. Manchmal genügt es, einfach nur da zu sein, die Umgebung aufmerksam wahrzunehmen und daran zu glauben, damit dieser Ort zum Schauplatz wird, diese Männer und Frauen zu Figuren einer Geschichte, diese scheinbar unbedeutenden Handlungen zu echten Geschichten. Für mich ist es das Wichtigste, einen soliden Ausgangspunkt zu haben, wie das Versprechen, dass etwas passieren wird. „Ich schreibe meine Bücher, um herauszufinden, was in ihnen steckt“, hat der Schriftsteller Julien Green einmal gesagt. Diesen Satz passt auch zu meiner Arbeit.

WIE HABEN SIE DAFÜR GESORGT, DASS SIE MIT IHRER KAMERA AKZEPTIERT WERDEN?

Bevor man ernten kann, muss man säen: das Vertrauen derer gewinnen, die man filmen will. Glücklicherweise kannten einige der Pflegekräfte und einige Patient*innen den einen oder anderen meiner Filme. Das hat geholfen. Ich habe mir die Zeit genommen, mein Projekt zu erklären, ohne zu versuchen, meine Bedenken zu verbergen, sondern sie im Gegenteil mit allen zu teilen. Auch das hat geholfen. Sie verstanden, dass ich meine Ansprüche in erster Linie auf mich selbst bezog. Schließlich sahen sie, dass ich bereit war, mich mitreißen zu lassen, dass sich der Film nach den Umständen, den Zufälligkeiten, der Verfügbarkeit und nicht aus einer Position der Überlegenheit heraus aufbauen würde. Am Ende gab es eine ziemlich spontane Akzeptanz. Auch Neugierde. Und bei vielen auch der Wunsch, dabei zu sein. Einige Leute baten darum, nicht gefilmt zu werden, ohne unsere Anwesenheit abzulehnen.

WIE LANGE HABEN DIE DREHARBEITEN GEDAUERT UND WIE VIEL FILMMATERIAL HABEN SIE GESAMMELT?

Ich hatte geplant, mir Zeit zu lassen, aber wenn die Dreharbeiten zu lange dauern, kann es aufdringlich werden. Man muss also ab und zu verschwinden, um den Leuten eine Pause zu gönnen. Daher die Dreharbeiten in mehreren Etappen, die sich schließlich über sieben Monate - von Mai bis November 2021 - erstreckten, weil Covid mitmischte... ein paar vereinzelte Tage Anfang 2022 nicht mitgerechnet. Mit der gleichen Idee im Hinterkopf - um nicht zu aufdringlich zu sein - habe ich oft allein gedreht. Als das Team komplett war, waren wir zu viert: ein Tontechniker, ein Kameraassistent, ein Praktikant und ich hinter der Kamera. Um eine Sitzung oder einen Workshop zu filmen, mussten wir einen Galgen benutzen, und an manchen Tagen mussten wir mit zwei Kameras drehen, aber in intimeren Situationen kam ich allein zurecht. Wahrscheinlich habe ich die Hälfte der Zeit allein gedreht. Am Ende hatte ich etwa hundert Stunden, vielleicht auch etwas mehr. Das ist eine ganze Menge. Aber beim Drehen geht es nicht darum, so viel Material wie möglich zu sammeln und zu denken: „Das sehen wir später, das sehen wir, wenn wir schneiden“, sonst gäbe es keinen Grund, aufzuhören. Drehen bedeutet, bereits mit dem Aufbau des Films zu beginnen, Assoziationen herzustellen, nach Entsprechungen zu suchen, Situationen ins rechte Licht zu rücken. Es bedeutet also, bereits an den Schnitt zu denken.

WIE HABEN SIE DEN FILM WÄHREND DES SCHNITTS KONSTRUIERT?

Ich musste ein Gleichgewicht finden zwischen den Momenten des täglichen Lebens mit allem, was es kennzeichnen kann - Workshops, Treffen, die Bar, informeller Austausch - und intimeren Momenten, in denen mir eine Person ein wenig von ihrer Geschichte anvertraut, ohne dabei die Einheit des Ganzen zu vernachlässigen. Eine weitere Herausforderung bestand darin, das Kollektiv, das an diesem Ort - aus therapeutischer Sicht - so wichtig ist, existieren zu lassen, ohne dass sich das Publikum verloren fühlt. Deshalb brauchte ich einige wiederkehrende „Charaktere“, zu denen man eine Verbindung entwickelt. Auch hier musste ein Gleichgewicht gefunden werden.

Es war mir natürlich sehr wichtig, dass das Publikum die Patient*innen hört. Ihre Sensibilität, ihre Klarheit, manchmal auch ihren Humor. Ihre Worte, ihre Gesichter. Ihre Verletzlichkeit, die hier und da auf unsere trifft. Ich wollte, dass wir uns mit ihnen identifizieren können oder zumindest erkennen, was uns jenseits unserer Unterschiede verbindet: so etwas wie eine gemeinsame Menschlichkeit, das Gefühl, Teil der gleichen Welt zu sein. Auch hier habe ich großen Wert auf Stimmen, Akzente, Sprache, Sprechen und Zuhören gelegt. LA VOIX DE SON MAÎTRE, IM LAND DER STILLE, NICHTS ALS KLEINIGKEITEN, LA MAISON DE LA RADIO, NÉNETTE... meine Filme sind alle Variationen von Sprache, mit Lücken, Fülle und Stille. Es geht um Rhythmus und Klang.

IM FILM SCHEINEN DIE PFLEGEKRÄFTE MEHR ODER WENIGER IM HINTERGRUND ZU STEHEN. MAN KANN SIE NICHT IMMER VON DEN PATIENT*INNEN UNTERSCHEIDEN...

In der Tat gibt es nichts, was sie auf den ersten Blick als solche ausweist, denn sie tragen keine weißen Kittel, haben keine Spritzen in der Hand... Kurzum, sie entsprechen nicht den Klischees. Außerdem habe ich nichts von den täglichen Treffen, die sie untereinander abhalten, in den Film eingebracht, und auch keine Szenen, in denen sie etwas erklären. Dennoch stehen sie nicht im Hintergrund: Wir sehen sie im Gespräch mit den Patient*innen, bei der Durchführung von Workshops (Zeichnen, Buchführung), bei der Co-Moderation von Sitzungen, kurz gesagt, sie spielen ihre Rolle voll und ganz, aufmerksam, oft diskret, aber sehr präsent. Man könnte sagen, dass die Pflege in erster Linie die Pflege der Atmosphäre ist, sie ist nicht frontal, sie ist subtil, oft unmerklich, sie geht durch tausend und ein Detail. Ein großer japanischer Modedesigner hat einmal gesagt: „Das Wichtigste an einem Kleidungsstück ist das, was es hervorhebt und dabei unsichtbar bleibt, seine verborgene Seite“.

Die Tatsache, dass nicht von vornherein zwischen Patient*innen und Pflegepersonal unterschieden wird, kann ein wenig verwirrend sein, da stimme ich zu. Es ist traurig, das zu sagen, aber heute, in diesen Zeiten des innerlichen Denkens, ist es so, als ob wir die Menschen in Schubladen stecken müssen, um uns zu beruhigen, indem wir genau wissen, wer wer ist, wer was tut. Der Typ da drüben? Ein Schizophrener! Und der da? Ein Krankenpfleger! Aber die Adamant hat - wie La Borde, La Chesnaie und andere Orte - eine andere Philosophie. Viele Aktivitäten werden dort gemeinsam organisiert. Die Betreuerinnen und Betreuer verbringen ihre Zeit nicht damit, sich in ihren Status zu hüllen, um als das zu erscheinen, was sie sind. Die Grenze zwischen Betreuer*innen und Betreuten, wenn es denn eine gibt, wird nicht als Bollwerk errichtet. Mit dieser Logik versetzt der Film das Publikum in die Lage, sich bestimmter Klischees zu entledigen. Es ist eine intendierte politische Position. Sie macht die Dinge komplexer, während uns heute alles zur Vereinfachung drängt.

DER FILM ENDET IM NEBEL...

Das war eine Idee, die ich schon sehr früh hatte und die ich unbedingt beibehalten wollte. Zwei Monate lang habe ich meinen Wecker auf fünf Uhr morgens gestellt, um das Wetter zu beobachten. Leider gibt es in Paris selbst so gut wie keinen Nebel. Am Ende habe ich ein wenig davon eingefangen, aber ich hätte mir gewünscht, dass er viel einhüllender gewesen wäre. Wie eine Art Hommage an die Dunstigkeit. Eine Verwischung der Ränder. Mit anderen Worten: der sakrosankten Normalität.

DIESER FILM IST DER ERSTE TEIL EINES TRIPTYCHONS. KÖNNEN SIE EIN PAAR WORTE ZU DEN BEIDEN ANDEREN SAGEN?

Den zweiten Teil habe ich in Esquirol gedreht, in den beiden krankenhausinternen Abteilungen, die zur Gruppe des Pariser Zentrums gehören. Er wird Averroès und Rosa Parks heißen, denn das sind die Namen der beiden Stationen. Er basiert weitgehend auf Einzelgesprächen zwischen Patient*innen und Psychiater*innen. Einige der Patient*innen, die auf der Adamant gefilmt wurden, werden darin zu sehen sein. Er wird derzeit bearbeitet. Der dritte Film wird eine Sammlung von Hausbesuchen von Betreuer*innen bei Patient*innen sein. Der endgültige Titel steht noch nicht fest. Auch hier werden einige bekannte Gesichter zu sehen sein. Der größte Teil des Films ist bereits gedreht und teilweise geschnitten.

Aber ich muss auf einen Punkt bestehen: Die drei Filme sind völlig unabhängig voneinander. Man muss den ersten nicht gesehen haben, um die nächsten zu sehen. Man kann sie in beliebiger Reihenfolge sehen, oder nur einen, usw. Sie haben gemeinsam, dass sie in der Zentralen Psychiatrischen Gruppe von Paris spielen, aber es sind drei sehr unterschiedliche Filme. Sie werden im Abstand von einigen Monaten in die Kinos kommen. Ich hatte mir vorgenommen, nur einen Film zu machen, aber es ist anders gekommen.

Paris, Januar 2023

13.09.2023, 09:23

Film: Weitere Artikel


Utopischer Ort der Menschlichkeit

Utopischer Ort der Menschlichkeit

Zum Film »Auf der Adamant« ist Teil eines Triptychons. In einigem Abstand kommen drei jeweils sehr unterschiedliche Filme in die Kinos. Enstanden sind diese Langzeitbeobachtungen an verschiedenen Schauplätzen der Zentralen Psychiatrischen Gruppe von Paris.
Bedürfnisorientierte Begleitung

Bedürfnisorientierte Begleitung

Hintergrund Wie es gelingen kann, zugewandt und offen auf Menschen mit psychischer Erkrankung einzugehen, zeigt das Team der Adamant – zusammen mit den Patienten beim gemeinsamen Dichten, Malen und Zeichnen
Für eine humanere Psychiatrie

Für eine humanere Psychiatrie

Netzschau Auf subtile Art hinterfragt Nicholas Philibert gängige Behandlungspraktiken der Psychiatrie. Und zeigt zugleich wie es besser laufen könnte – auch außerhalb der Adamant

Auf der Adamant | Trailer

Video Aus sensiblen Beobachtungen und Gesprächen mit den Adamant-"Passagier•innen" entsteht das leichtfüßige Portrait einer Einrichtung, deren Existenz Hoffnung macht


Sur l'Adamant | Trailer (Original)

Video In die einzigartige Tagesklinik kommen Erwachsene mit psychischen Störungen, die therapeutisch begleitet werden, sich hier vor allem aber kreativ entfalten. Nicolas Philibert wirft einen wertschätzenden Blick auf diese Gemeinschaft


Nicolas Philibert | Berlinale

Video Die Preise der diesjährigen Berlinale sind vergeben: Der Goldene Bär geht an den Dokumentarfilm „Sur l'Adamant“


Berlinale 2023 | Press Conference

Video The Highlights of the Press Conference for "On the Adamant"