Frage der (Mit-)Schuld

Interview Anne Z. Berrached spricht über ihre Entscheidung, die Geschichte einer Liebe zu erzählen, die durch politische Radikalisierung in ein Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Lüge gerät und erzählt von der langwierigen Suche nach dem richtigen Darsteller
Regisseurin Anne Zohra Berrached ist ein großer, mutiger Film über die blinden Flecken der Liebe und die Ohnmacht gegenüber äußeren Zugkräften gelungen
Regisseurin Anne Zohra Berrached ist ein großer, mutiger Film über die blinden Flecken der Liebe und die Ohnmacht gegenüber äußeren Zugkräften gelungen

Foto: Neue Visionen Filmverleih

Was hat Sie dazu inspiriert, Die Welt wird eine andere sein zu entwickeln?

Wir leben in einer Zeit, in der immer mehr Familien und Beziehungen durch Ideologie gespalten werden. Die Drehbuchautorin Stefanie Misrahi und ich möchten eine Liebesgeschichte im Spannungsfeld von politischer Polarisierung auf die Leinwand bringen. Wir erzählen von der Zeit vor dem „Urknall“ dieser politischen Polarisierung Ende der 1990er Jahre. Eine Amour Fou vor dem Hintergrund eines furchtbaren historischen Ereignisses, das mit seiner Gewalttätigkeit und Symbolkraft in uns allen eine Leerstelle, ein Rätsel hinterlassen hat. Ein Film über Macht und Ohnmacht, Leben und Tod, ein Paar, das kämpft, das lügt, um sich zu schützen, sich verletzt und sich liebt. Eine Frau, die in eine Situation gerät, die ihr gesamtes Leben und das der restlichen Welt verändert. Es geht uns um die tragische Figur Asli, in der am Ende dieser Geschichte etwas unwiederbringlich zerstört worden ist, Asli die so nah dran war, Asli die sich fragen muss, ob sie selbst hätte anders handeln können. Zusammen mit den Produzenten Roman Paul und Gerard Meixner habe ich einen langen Prozess der Materialsammlung begonnen, in dessen Focus terroristische Attentäter und ihre Frauen standen. Diese Recherchematerialien dienten der Drehbuchautorin Stefanie Misrahi und mir als Startpunkt, um das Schicksal zweier Figuren zu adaptieren, die zum Teil aus der Recherche, zum Teil aus unseren Köpfen und Herzen entstanden ist. Den Blick auf das Gefühlsleben einer Frau eines Terroristen zu richten, ist kein faktenbasierter Vorgang. Obwohl wir für Die Welt wird eine andere sein Berge von Quellmaterial gesichtet haben, ist der Film keine einfache Wiedergabe der historischen Fakten, sondern mein eigenes Destillat der Geschichten und Charaktere, die uns dabei begegnet sind.

Canan Kir und Roger Azar, die Schauspieler, die Asli and Saeed darstellen, tragen den Film über einen Zeitraum von über sechs Jahren. Wie haben Sie die beiden gefunden?

Schon während des Drehbuchschreibens fiel mir die Vorstellung schwer, den Film wie üblich mit bekannten Schauspielern zu besetzen. In allen meinen vorangegangen Filmen arbeitete ich mit Laien in Nebenrollen. Bei Die Welt wird eine andere sein wollte ich diesem tragischen Weltereignis, auf das der Film hinläuft, Darsteller entgegensetzen, mit deren Gesichtern und Verhalten der Zuschauer nichts assoziiert. Ich wollte für Haupt- und Nebenfiguren Menschen entdecken, die ein großes Talent mitbringen, deren Stimme und deren Spiel aber nicht für die große Bühne ausgebildet wurden und mit denen ich parallel zur Entwicklung des Drehbuchs die Art und Weise, wie sie vor der Kamera agieren, definieren und einüben konnte. Ich wollte beim Publikum diesen magischen Moment auslösen: Es könnte wirklich so passiert sein. Asli und Saeed könnten sich wirklich so gefühlt, so gehandelt haben. Die Casterin Susanne Ritter und ich haben einen Castingprozess organisiert, der fast ein Jahr dauerte. Ich habe für alle Rollen mit über 500 Laien und angehenden Schauspielern gearbeitet. Canan Kir hat sich recht schnell für die Rolle der Asli durchgesetzt. Sie hat das, was ich an Schauspielern mag, dieses Talent, sich in Situationen zu werfen, sie für den Moment real werden zu lassen, ohne Korrektiv, ohne sich ihrer bewusst zu sein, ohne Sicht von außen. Und dann hat Canan noch etwas, das nur Canan hat: diese existentielle Dramatik, die sich in ihren Augen spiegelt. Aber es fiel mir schwer, unsere zweite Hauptfigur zu finden. Unser Film beginnt mit einem jungen Mann, der vor nicht allzu langer Zeit aus dem Libanon nach Deutschland gekommen ist, der in einem Land aufwuchs, dessen Bevölkerung vom jahrelangen Krieg traumatisiert ist – so wie auch seine Eltern. Ich mochte viele der in Deutschland lebenden Libanesen im Casting, aber ich habe ihnen die libanesische Herkunft nie wirklich abgenommen. Es wurde schnell klar, dass wir unseren Darsteller nur im Libanon finden konnten. Zusammen mit Produzent Roman Paul, der Drehbuchautorin Stefanie Misrahi und der in Beirut lebenden Casterin Abla Khoury haben wir in drei Wochen in Beirut 120 Männer auf englisch und französisch gecastet. Als Vorletzter betrat Roger Azar den Raum. Ich werde nie vergessen, mit welcher Wucht, Empathie und Stolz er Saeed dargestellt hat. Roger ist ein Improvisationskünstler, der jede Szene, jeden Moment neu erfindet. Jemand, der sich im Spiel das Recht herausnimmt, alles zu dürfen, jemand, der den Drang hat, sich selbst nie langweilen zu wollen. Mit dieser Wucht hat er Saeed erfunden. Mir war klar, dass wir ein Talent entdeckt haben, aber um auf Deutsch improvisieren zu können, reicht es eben nicht aus, das Drehbuch auswendig zu lernen. Roger musste lernen, auf Deutsch zu denken, um spontan reagieren zu können. Wir haben ihm in Berlin eine Wohnung gestellt, ihm mit einem Taschengeld ausgestattet und mit Hilfe des Goethe Instituts einen 6-Tage-die-Woche Deutschkurs organisiert, der fast ein Jahr dauerte. Roger hat nicht nur ein Talent für das Schauspiel, er hat auch den Intellekt, Sprachen zu absorbieren.

Was war Ihnen während des Drehs und am Set besonders wichtig?

Darsteller müssen die Chance erhalten, Schauspiel von innen kommen zu lassen. Das Filmset, seine vielen Leute, seine Technik und die Kamera sind grundsätzlich Gegner des guten Schauspiels. Ich versuche, das zu umgehen und Voraussetzungen zu schaffen, dass Darsteller sich entfalten und wahrhaftig sein können. Um das zu erreichen, habe ich mir zusammen mit meinem kreativen Team (Kamera, Szenenbild, Kostüm, Maske) eine Arbeitsweise erarbeitet, die es ermöglicht, den Darstellern den Vorrang zu geben. In der Vorbereitung und beim Dreh versuchen alle Departments, diesem Grundsatz zuzuarbeiten. Ein weiterer Gegner des wahrhaftigen Spiels ist der Schauspieler selbst, seine eigene innere Unsicherheit und sein Plan, seine Idee von der Szene, die er abspult, ohne den Moment zu fühlen. Meiner Erfahrung nach sind Schauspieler gut, indem sie paradoxerweise all das, was sie in ihrer Probe vor dem Spiegel erlernt und im Unterbewusstsein abgespeichert haben, vergessen und den Moment „neu“ erleben. Genau das ist es, was wir den Schauspielern in der Probenarbeit mitgegeben haben. Wir haben sie befähigt, den Augenblick, wenn ich sage: „Und Bitte!“, wirklich zu erleben, ihn zu fühlen und dadurch lebendig werden zu lassen. In der ungewöhnlich langen Probenzeit von einem Jahr hatte sich eine Verbindung zwischen Canan, Roger und mir aufgebaut, die uns durch die Hektik, Härte und Länge des Drehs getragen hat. Mit welcher Hingabe Canan und Roger diesen Film gemeistert haben,verdient größten Respekt.

Sie sind in Ost-Deutschland aufgewachsen und haben einen algerischen Vater – wie sehr können Sie sich mit Asli und ihrer Geschichte identifizieren?

Ähnlich wie unsere Hauptfigur Asli und ihr Ehemann Saeed bin ich in zwei Welten groß geworden. Ich kenne den Spagat zwischen westlichem Lebensstil und muslimischer Kultur. Mein Vater war nur Moslem, wenn es ihm gefiel. Wann immer wir Besuch aus Algerien hatten, wurde der Koran aufgeschlagen, gebetet und auf Schweinefleisch verzichtet. Die Welt wird eine andere sein ist auch eine Geschichte über die kulturellen Gegensätze, denen Migranten aus dem islamischen Kulturkreis ausgesetzt sind, über ihren Umgang miteinander und ihren Ausdruck von Gefühlen. Mir ist es wichtig, verschiedene Muslime in Deutschland zu zeigen. Aslis Mutter ist im traditionellen Sinne konservativ, aber nicht in der Auslebung ihrer Religion. Das ist ein Unterschied, der in Debatten meist zu kurz kommt. Oft ist es nicht die Religion, sondern die Tradition, die konservativ gelebt wird. Saeed stammt aus einem Elternhaus, das sehr frei ist. Als er in Deutschland ankommt, fühlt er sich fremd und findet Vertrautheit in seiner Hinwendung zur Religion. Die Veränderung seiner Ansichten bespricht er nicht mit Asli. Asli spürt es, aber fragt nicht nach oder tut das erst sehr spät. Ihre Art, die Dinge lange nicht zu benennen, Gefühle und Bedürfnisse, die soziale Beziehungen wie Familie oder Partnerschaft belasten könnten, zu unterdrücken, mag sich für Menschen des westlichen Kulturkreises ungewöhnlich anfühlen, wird in der arabischen und türkischen Kultur aber über weite Strecken als höflich betrachtet. Das ist etwas, das ich von zu Hause sehr gut kenne. Oft geht es nicht um die Wahrheit, es ist wichtiger, dass die persönliche Beziehung erhalten bleibt. Verbindungen wie Ehe oder Familie dürfen nicht gefährdet oder verletzt werden und haben einen sehr hohen Stellenwert, manchmal höher als das ehrliche eigene Bedürfnis. Im Gegensatz dazu werden Gefühle wie Trauer, Freude und Wut laut, unmittelbar und direkt ausgelebt. Wie ich es bei meinen arabischen Verwandten erlebe und auch von mir selbst kenne, habe ich die Szene mit Saeeds Eltern im Libanon geschrieben und inszeniert. Wir erleben ein Paar in einer Ausnahmesituation und sehen sie so impulsiv agieren, wie es in deutschen Familien schwer vorstellbar ist. Auf der anderen Seite sehen wir Asli, wie sie nur mit Schwierigkeiten ihre Probleme mit den Eltern oder mit Saeed teilen kann, aus Scham, eine schlechte Frau, Tochter oder Schwiegertochter zu sein.

Die Zuschauer werden mit der Frage nach der Schuld konfrontiert, die in der Unwissenheit oder in bewusster Verdrängung von Wissen liegt.

Ich bin angetreten, einen Film über das menschliche Drama zu machen, das sich entfaltet, wenn man zusehen muss, wie der Mann, den man liebt, zu einem Fremden wird. Das, was mich besonders interessiert, ist die Art und Weise, wie Asli mit ihren Zweifeln, die sie umtreiben, umgeht. Sie weiß, dass Saeed etwas hinter ihrem Rücken plant, aber ab einem bestimmten Punkt der Konfrontation geht sie nicht weiter. Um ihre Liebe zu erhalten, bleibt Asli stumm. Sie sagt nicht laut, was sie denkt, sondern agiert im Hintergrund, weil sie es so gelernt hat, weil sie so ist. Für mich ist Asli eine starke Figur, die aber in zwischenmenschlichen Beziehungen nicht stark handelt. Es gibt Szenen zwischen Mutter und Asli, die zeigen, wie sehr die beiden sich lieben, aber ähnlich wie in der Beziehung zu Saeed kann Asli gegen die übermächtige Mutter wenig ausrichten, zumindest nicht direkt. Um die Beziehung zur Mutter nicht zu gefährden, setzt sie ihre Ziele heimlich hinter ihrem Rücken durch. Asli hat nie gelernt, gegen Dominanz anzugehen. Am Ende unseres Films steht Asli an einem Punkt, an dem sie ihr Leben lang zurück denken wird. Ähnliche Momente kennen wir alle. Zurückschauend fragen wir uns, warum wir so gehandelt haben. War es eine unbewusste Handlung, ist es uns einfach so passiert? Oder gab es einen Punkt der Bewusstwerdung? Haben wir etwas verdrängt, mit Absicht weggeschaut? Es ist die Frage der Mitschuld, die für immer in Asli rumoren wird. Ich möchte Filme machen, die nicht mit Antworten enden, sondern den Zuschauer mit Fragen entlassen: Ist man schuldig, wenn man die Wahrheit nicht wahrhaben will, ohne die Konsequenzen gekannt oder sie willentlich ignoriert zu haben? Welche Schuld trifft Asli, wenn sie doch im Namen der Liebe gehandelt hat, wenn sie es nicht anders gelernt hat?

Die Europäer klammern sich verzweifelt an ihrem Komfort, ihrer Sicherheit und Freiheit fest und schließen ihre Augen vor der Gewalt, der Unterdrückung und Zerstörung, mit der unser Lebensstil bezahlt wird. Ist Asli eine Art Kassandra, eine Warnung, die wir begreifen müssen?

Asli steht im Auge des Sturms. Es gibt diesen Funken einer Möglichkeit, dass, wenn Asli sich richtig bemüht hätte, herauszufinden was los ist, sie die Katastrophe vielleicht hätte erahnen und etwas ausrichten können. Es lässt die Frage aufkommen, was ein mündiger Bürger ist. Ist es der, der darauf vertraut, dass die Machtträger wissen, was sie tun oder der, der immer versucht, sich genügend Wissen einzuholen? Vielleicht müssen Bürger der westlichen Staaten genau wie Asli lernen hinzusehen, ob es weh tut oder nicht, sich eingestehen, dass wir eben die Demokratie nicht optimal nutzen und dass manchmal der Rückzug in den toten Winkel, von dem aus man keinen Überblick mehr hat, aber dafür scheinbare Ruhe, uns später immer auf die Füße fallen wird. Im Buddhismus sagt man, ob man schlechtes Karma erzeugt oder gutes, kommt immer auf die Absichten an, die man hatte, wenn man etwas tut, das mitunter schwere Folgen hat. Man fragt sich, ob Aslis Absichten egoistisch waren oder die einer Liebenden. Wir unterscheiden also zwischen unterbewusstem Handeln und bewusster Verdrängung und bewerten diese unterschiedlich. Wir in Europa können uns aber nicht auf den Begriff des unbewussten Handelns zurückziehen, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken. Wenn BergbauKonzerne in Afrika Kinder ausbeuten, damit wir unser Wachstum aufrecht erhalten können, passiert das, während wir das wissen und stumm akzeptieren. Wir verdrängen und das macht uns eindeutig schuldig. Der Mehrwert, den Asli aus ihrer Verblendung der Tatsachen hat, findet dagegen auf der Gefühlsebene statt. Sie schadet nicht bewusst anderen Menschen. Mein Film lässt offen, ob Asli verdrängt oder unterbewusst handelt.

10.08.2021, 14:07

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