Einblicke: Humorvoll und schonungslos ehrlich

Zum Film In ihrem fein beobachteten Dokumentarfilm „Für immer“ ergründet Grimme-Preisträgerin Pia Lenz eine jahrzehntelange Liebe – wie sie beginnt, fortbesteht und sich bewahren lässt – vom ersten Kuss bis zum letzten gemeinsamen Augenblick
Eva und Dieter Simon in ihrem Haus in Hamburg-Harburg
Eva und Dieter Simon in ihrem Haus in Hamburg-Harburg

Foto: Julia Sellmann

Als die Dreharbeiten zu Für immer im Herbst 2018 beginnen, sind Eva und Dieter Simon beide schon über 80. Sie sind eines dieser älteren Paare, denen man beim Spazierengehen hinterherschaut, weil sie sich so fest bei den Händen halten. Die Zuschauerinnen und Zuschauer begegnen den beiden Jahre vor ihrem Abschied. Sie lernen Dieter beim Rollschuhlaufen kennen. Sie hören mit ihm seine geliebten Jazzplatten. Sie erleben Eva, wie sie Kindern an ihrer ehemaligen Schule aus ihrem Kriegstagebuch vorliest. Und wie sie danach erschöpft grübelt: Wird sie die Lesungen im nächsten Jahr noch schaffen?

Eva und Dieter Simon sind ein lebenskluges, liebenswertes Paar. Sie haben tiefe Krisen überstanden und sind miteinander alt geworden. Jahrzehnte später sitzen sie immer noch am Küchentisch und sind in ihr Gespräch vertieft. Als Eva krank wird, beginnt ein langer, sehr bewusster Abschied von ihrem Leben zu zweit, der manchmal traurig ist, manchmal seltsam banal, oft aber auch komisch und voller Vertrautheit und Liebe.

„Am liebsten möchten Dieter und ich gemeinsam sterben, niemand von uns möchte alleine weiterleben. Und wenn das nicht geht, möchte ich zuerst sterben. Ich weiß, das ist sehr egoistisch.“

– Eva Simon, 2018

Die Protagonisten

Es war keine Liebe auf den ersten Blick, das sagen beide. Eva war 16 Jahre alt und Dieter 18, als sie sich in der Tanzschule in Hannover kennenlernten. Dieter schrieb damals abwechselnd an „Evchen“, so nennt er sie auch später, und an deren beste Freundin Karen. Er hatte sich noch nicht entschieden. Einmal, auf dem Nachhauseweg im Dezember 1952, gab er Eva einen Kuss, seitdem waren sie zusammen. Sie heirateten im Jahr 1957 und bekamen in den folgenden Jahren ihre Töchter Sunka und Jaike. 1968 kam ihre Tochter Siska auf die Welt.

Von Beginn an haben sich die beiden Briefe geschrieben. Am Anfang waren da vor allem Fragen an das Leben, das so unendlich vor ihnen lag: an die Politik in der jungen Nachkriegsdemokratie, an die Moralvorstellungen der Eltern, an ihre eigenen Ideale, auch die einer glücklichen Liebesbeziehung. Was ist daraus geworden?

„Manchmal wache ich morgens um fünf Uhr auf und da sind diese Zweifel: War ich eine gute Mutter? Habe ich jemanden schlecht behandelt? Dann würde gerne zurückgehen ins Damals. Aber das geht ja nicht.“

– Eva Simon, 2019

Eva Simon

Eva Simon ist eine kleine zierliche Frau, die kaum stillsitzen kann. Sie liebt das Leben, trägt ihr Herz auf der Zunge und provoziert Dieter gern, wenn er ihr mal wieder schweigsam ist. Bereits als junge Frau hat sie mit ihrem starken Willen durchgesetzt, dass sie ihr Abitur machen durfte. Am liebsten wäre sie Schauspielerin geworden, hat sich dann aber für den Beruf der Lehrerin entschieden. Nach der Geburt ihrer Töchter hat sie schnell wieder gearbeitet, obwohl sie dafür kämpfen musste. Ihre große Leidenschaft für das Theater und die Literatur behält sie ein Leben lang. Im Laufe der Dreharbeiten breitet sich ihre Lungenkrankheit immer weiter aus. Sie würde mit Dieter gerne mehr über das sprechen, was auf sie zukommt. Aber sie kennt ihn, ihm fällt das schwer. So grübelt Eva oft nachts, wenn sie vor Unruhe nicht schlafen kann.

Dieter Simon

Dieter Simon ist ein besonnener und ruhiger Mann, handwerklich geschickt und künstlerisch begabt. Manchmal, wenn es mit Eva Streit gibt, reagiert er sich beim Holzhacken im Garten ab. Das hat er schon als junger verheirateter Mann getan, wenn es Konflikte gab. Dieter hat viele Jahrzehnte als Professor und Architekt gearbeitet. Fast zehn Jahre hat er das Haus der Familie selbst an- und umgebaut und war politisch aktiv. Da blieb nicht viel Zeit für die Familie. Nun braucht Eva ihn rund um die Uhr. Er muss eine ganz neue Rolle einnehmen. Seit ihrer Erkrankung hat er Angst, sie allein zu lassen. Und er hat Angst, eines Tages selbst allein zu sein. Doch Dieter schafft es nicht, offen mit ihr darüber zu sprechen.

Die Tagebücher

„Es ist so totenstill zwischen uns. Nur die lauten Gedanken.“

– Eva Simon, 1980

Für Eva Simon waren ihre Tagebücher ein Leben lang ein wichtiger Gesprächspartner. Das erste Buch stammt aus dem Jahr 1947, das letzte von 2021. Sie habe das Schreiben immer gebraucht, um ihre Gedanken und Gefühle zu sortieren, sagt sie. Zu Beginn der Liebesbeziehung haben Eva und Dieter abwechselnd in Briefbücher geschrieben. Textnachrichten gab es noch nicht, es war ihre Art der Kommunikation.

Nach etwa zwei Jahren Drehzeit hat Eva Simon der Regisseurin Pia Lenz ihre gesammelten Tagebücher anvertraut. Die Texte geben sehr intime, humorvolle und ehrliche Einblicke in die Gedankenwelt dieser außergewöhnlichen Frau. Es sind Momentaufnahmen aus vielen Jahrzehnten, in denen es großes Glück und tiefe Krisen gegeben hat.

Regisseurin Pia Lenz konnte über die Texte und Briefe die verschiedenen Phasen dieser Beziehung tiefer ergründen und diese Einblicke auch in die Gespräche und Dreharbeiten mit Eva und Dieter einbringen.

Eine Auswahl von Tagebuchausschnitten bildet eine eigene Erzählebene im Film. Den Texten leiht die großartige Nina Hoss im Film ihre Stimme.

07.11.2023, 20:03

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Für immer | Trailer

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