In Kooperation mit IMMERGUTEFILME

Scandar Copti über „Happy Holidays“

Mit „Happy Holidays“ untersucht Scandar Copti, wie patriarchale und gesellschaftliche Strukturen Wahrheiten formen und Konflikte nähren. In einem vielstimmigen Erzählkonzept zeigt er, wie Frauen zwischen Tradition und Selbstbestimmung navigieren

Foto: IMMERGUTEFILME

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Happy Holidays

Happy Holidays

Scandar Copti

Spielfilm / Drama

Palästina, Deutschland, Frankreich, Katar und Italien 2024

123 Minuten

Ab 5. September 2025 im Kino!

In Kooperation mit IMMERGUTEFILME

Happy Holidays

Was hat Sie zu diesem Film inspiriert?

Die Inspiration zu Happy Holidays begann mit einem Gespräch, das ich als Jugendlicher zufällig mit anhörte. Eine weibliche Verwandte sagte ihrem Sohn:

„Lass dir niemals von einer Frau sagen, was du zu tun hast.“

Diese paradoxe Aussage - eine Frau, die patriarchale Werte weitergibt - hat mich tief geprägt. Sie zeigte mir, wie sehr diese Denkmuster verinnerlicht sind, auch bei jenen, die eigentlich davon betroffen sind. Später, während meiner Studienzeit, beobachtete ich ähnliche Strukturen in der israelischen Gesellschaft. Rituale und Geschichten dienen oft dazu, patriarchale und militaristische Systeme zu legitimieren und zu stabilisieren. Ich kannte viele dieser Menschen persönlich - ich konnte sie nicht als "böse" sehen. Sie waren gute Menschen in einem schlechten System. Ein System, das Realitäten durch soziale Dynamiken formt und sie durch Belohnung und Bestrafung konditioniert. Mein Film Happy Holidays will diese Mechanismen der Realitätskonstruktion sichtbar machen - und zeigen, wie Werte und Wahrnehmungen entstehen, wie Konflikte aus gegensätzlichen Wahrheiten hervorgehen.

Wie ist der Film strukturiert?

Der Film nutzt eine nicht-lineare, kapitelartige Struktur, die sich von klassischen Mehrstrang-Narrativen unterscheidet: Jede der vier Hauptfiguren - Rami, Hanan, Miri und Fifi - erhält ein eigenes Kapitel. In jedem Abschnitt sehen wir die Welt ausschließlich aus der Perspektive dieser Figur. Das Publikum weiß nicht, was parallel mit den anderen Figuren geschieht. Sobald eine Figur einen emotionalen oder dramatischen Höhepunkt erreicht, wechseln wir die Perspektive zur nächsten. Ereignisse, die zuvor aus einer Sicht klar erschienen, werden nun aus einer anderen Sicht neu gedeutet. Diese Konstruktion erlaubt es dem Publikum, sich auf jede Figur einzulassen und ihre „Wahrheit" mitzuerleben. Gleichzeitig wird deutlich: Niemand handelt isoliert. Alle sind Teil eines Systems, das sie prägt und kontrolliert - durch politische, soziale, kulturelle und ökonomische Kräfte.

Warum erzählen Sie die Geschichte durch die Augen palästinensischer und israelischer Frauen?

Weil Frauen in diesen Gesellschaften oft doppelt belastet sind. Sie leben unter strukturellem Patriarchat und tragen gleichzeitig Verantwortung, diese Strukturen zu erhalten - sei es durch Erziehung, Familie oder soziale Erwartungen. Mein künstlerischer Prozess beginnt oft mit einem persönlichen Reizthema. Ich frage mich: Wer hat das in mir ausgelöst? Welche Dynamiken stecken dahinter? Daraus entstehen Figuren und Szenen. Die Frauenfiguren in Happy Holidays sind mit verschiedenen Zwängen konfrontiert - Scham, Ehre, soziale Kontrolle -, aber auch mit Wünschen nach Selbstbestimmung, Sie spiegeln das Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Loyalität.

Wie arbeiten Sie mit Nicht-Schauspielern?

Ich nutze eine Technik namens „Singular Drama", die ich während der Arbeit an Ajami entwickelt habe. Dabei geht es nicht um klassisches Schauspiel, sondern um die emotionale Verkörperung einer Figur durch eine echte Person, deren Lebenserfahrung der Rolle möglichst nahekommt.

Beispiele: Ein Arzt im Film ist ein echter Arzt. - Eine Lehrerin ist eine echte Lehrerin.

Ein Jahr lang arbeiteten wir in Workshops. Die Teilnehmer*innen lernten nicht Dialoge auswendig - sie entwickelten Biografien und Beziehungen durch Rollenspiele, Diskussionen und Interaktion an realen Drehorten. Die Szenen wurden chronologisch gedreht, die Kamera folgte den Figuren dokumentarisch. Es gab kein Filmlicht, keine Tonangel, kein Skript - alles war auf Spontaneität und Authentizität ausgelegt. Die Darsteller kannten die Gesamtgeschichte nicht. Sie reagierten emotional auf das, was sie direkt erlebten — nicht auf das, was im Drehbuch stand.

Fifi und ihre Mutter Hanan könnten auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein - und doch verbindet sie mehr, als sie trennt. Warum haben Sie die Charaktere auf diese Weise geschrieben?

In der patriarchalischen Struktur der palästinensischen Gesellschaft werden viele Entscheidungen und Lebensentwürfe von den Konzepten Ehre, Scham und der berüchtigten Frage „Was würden die Leute sagen?“ bestimmt. Hanan, die Mutter, hat sich diesen Normen völlig untergeordnet. Sie handelt aus dem Wunsch heraus, gesellschaftlich akzeptiert zu bleiben selbst wenn das bedeutet, gegen das Wohlergehen ihrer Kinder zu handeln. Fifi hingegen ist Teil einer jüngeren Generation, die versucht, mit diesen Normen zu brechen - allerdings heimlich. Sie führt ein Doppelleben, versteckt ihre Wahrheit und strebt danach, sich selbst zu verwirklichen. Beide Frauen sind Opfer desselben Systems - nur ihre Strategien im Umgang damit unterscheiden sich. Der Film zeigt: Selbst wohlmeinende Eltern können ihren Kindern schaden, wenn sie deren persönliche Entscheidungen nicht akzeptieren.

Warum der Titel Happy Holidays?

Der englische Titel Happy Holidays ist bewusst ironisch gewählt. Feiertage in Israel - insbesondere staatlich und religiös geprägte - sind nicht nur festliche Anlässe. Sie haben auch eine politische und emotionale Wirkung. Für viele Israelis sind diese Tage eng mit historischer Verfolgung und nationaler Identität verbunden. Diese Feiertage werden nicht nur in Schulen und Medien, sondern auch im Alltagsleben stark inszeniert - und betreffen damit auch palästinensische Bürger*innen, die in Israel leben. Im Film zum Beispiel erlebt Fifi diese Feiertage in der israelischen Schule, an der sie als Lehrerin arbeitet. Die Rituale wirken fremd, aber sie kann sich ihnen nicht entziehen. Der arabische Originaltitel Yinad Aleykou (ينعاد عليكم) hat eine doppelte Bedeutung: Einerseits ist es ein gängiger Feiertagsgruß: „Möge es sich für euch wiederholen." Andererseits erhält dieser Satz im Film eine wörtliche Bedeutung: Kurz bevor Fifis Kapitel beginnt, „wiederholen" sich die Ereignisse - diesmal aus ihrer Perspektive. Das zeigt, wie sich Unterdrückung über Generationen hinweg fortsetzt.

Welche Wirkung erhoffen Sie sich?

Ich wünsche mir, dass der Film Menschen zum Nachdenken bringt - nicht nur über andere Kulturen, sondern über ihre eigenen Werte, Routinen und Denkmuster. Happy Holidays stellt keine einfachen Wahrheiten auf. Es lädt ein, mit den Figuren zu fühlen - auch wenn sie Fehler machen. Es zeigt, wie Menschen ihr Handeln rechtfertigen, wie sie in Konflikten funktionieren und wie leicht es ist, Teil eines Systems zu werden, das man vielleicht gar nicht unterstützen möchte. Für das Publikum in Venedig, Toronto und anderswo wünsche ich mir vor allem eins: Dass sie die Menschlichkeit in jeder Figur erkennen - und dabei ihre eigene Welt mit neuen Augen sehen. Der Film endet mit der Überzeugung: „Niemand ist wirklich frei, solange nicht alle frei sind — frei von politischer, sozialer und kultureller Unterdrückung."

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