„No hope no fear“

Kommentar „Sterben“ von Matthias Glasner enthält autobiografische Elemente – ursprünglich ging es nur um seine Eltern, später dann auch um den Regisseur selbst. Über die Dreharbeiten schreibt er: „Wir waren auf der Suche nach der Magie des Augenblicks“
„No hope no fear“

Foto: Port au Prince/Senator Film/Wild Bunch/Peter Hartwig

„The hope is in the fact that we are playing it“
— Tom Lunies im Film über die Komposition „Sterben“

Ich sitze in einem Coffee Shop direkt an der nächsten Ecke, nur ein paar Schritte von unserer Wohnung entfernt. Mein erstes Kind, gerade erst geboren, wartet darauf, von mir durch den Park geschoben zu werden, damit es endlich einschläft. Auch ich will schlafen, aber ich kann nicht. Ich starre aus dem Fenster, raus auf die Straße, Schönhauser Ecke Danziger. Und ich sehe die Gespenster meiner Eltern, die hier nie gewesen sind, dort mitten im Verkehr stehen. Sie sind vor kurzem schnell nacheinander gestorben, nach langem Leiden. Ich will ihnen verdammt nochmal endlich nahekommen, was mir Zeit ihres Lebens nicht gelungen ist. Und die einzige Methode für mich, überhaupt irgendetwas oder irgendwem nahe zu kommen, ist es, einen Film zu machen.

Also fange ich an zu schreiben, im Lärm der Kaffeemaschinen, an diesem trostlosen Ort. Schreibe in den nächsten Wochen hier jeden Tag für ein paar Stunden. Erst nur über meine Eltern, dann wird klar, dass es nicht geht, wenn ich nicht selbst darin vorkomme. Also schreibe ich auch über mich. Und dann plötzlich über alles. Über das ganze Leben, so, wie ich es kannte, bevor ich eine neue Familie fand.

Es ist ein Experiment: Ist es möglich, einen Film als eine Annäherung an sich selbst zu machen, gegen alle dramaturgischen Regeln? Einen Film, der kein „Produkt“, kein „Content“ sein will? Kann dieser Film, indem ich für ihn mein Herz weiter öffne als je zuvor, genau deshalb auch die Herzen der Zuschauer für ihr eigenes Leben öffnen?

Zwei Monate später sind in diesem Coffee Shop 200 Seiten geschrieben worden, meist übermüdet, ein bisschen manisch vielleicht.

Der Deal mit mir selbst ist, dass ich mit diesem Projekt stoisch voran gehe, bis mich die Umstände stoppen. Soll heißen: Bis ich kein Geld kriege, um weiterzumachen. Denn Film kostet immer Geld, sehr viel Geld.

Aber niemand stoppt mich. Produzenten finden sich, Geld findet sich. Schauspieler wollen meine Mutter, meinen Vater, mich und all die anderen Figuren spielen, die ein Amalgam aus gelebtem Leben und einer freidrehenden Imagination sind, denn auch das gehört zu mir: Meine Fantasien und Ängste, die aus der Konfrontation mit der Welt entstehen, die ich nicht verstehe.

Wir drehen in einem somnambulen Zustand. Wir treffen uns morgens und fangen einfach an, ohne Proben, jeden möglichen Zweifel verdrängend, no hope no fear, wie Caravaggio sagt, einfach immer weiter. Auf der Suche nach der Magie des Augenblicks, den die Kunst für einen bereit hält, wenn man sich dafür öffnet, in dem man ihn nicht erzwingen will. Und da wir auch keine Mittagspausen machen, gehen wir jeden Abend gemeinsam Essen und reden viel, über uns, über die anderen und über das Unglück der Zeit. Und all das strömt in das Unterbewusstsein dieses Films ein, der wie ein lebendiger Organismus ist, weil wir ihn uns nicht „erarbeiten“, sondern einfach LEBEN.

Jetzt ist er fertig. Und der Zuschauer hat die Möglichkeit, für eine Weile an dieser Strömung teilzuhaben. Eine Lebenserfahrung zu machen. Vielleicht sogar ein paar Freunde fürs Leben kennenzulernen. Mehr geht nicht.

Matthias Glasner

22.04.2024, 20:11

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