In Kooperation mit Wild Bunch Germany

„Wir leben alle in ein und derselben Welt“

„Tatami“ ist eine besondere künstlerische Zusammenarbeit, mit der Guy Nattiv und Zar Amir ein Zeichen setzen wollen: Für sie ist der Film eine Hommage daran, den Hass und die gegenseitige Zerstörung zu überwinden – gegen alle Widerstände

„Ich liebe Filme, die einem das Gefühl einer tickenden Zeitbombe vermitteln“, sagt Regisseur Guy Nattiv im Interview
„Ich liebe Filme, die einem das Gefühl einer tickenden Zeitbombe vermitteln“, sagt Regisseur Guy Nattiv im Interview

Foto: Wildbunch Germany

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Tatami

Tatami

Guy Nattiv, Zar Amir

Drama, politischer Thriller

Georgien, USA 2023

105 Minuten

Ab 1. August 2024 im Kino!

In Kooperation mit Wild Bunch Germany

Tatami

Wie haben Sie einander kennengelernt und was war der Grund für diese besondere Zusammenarbeit?

Zar Amir: Auf ganz übliche Weise wurde ich für das Casting von Guys Film kontaktiert. Parallel dazu kam Holy Spider in den USA in die Kinos, und so haben wir uns zum ersten Mal in LA getroffen. Alles begann mit der Figur der Maryam, der Trainerin, aber dann fing ich an, Guy und der Produktion in der Casting-Abteilung zu helfen und auch der Produktion als Associate Producer beizustehen, gerade was Details bezüglich der Authentizität anbetrifft. Auf die gleiche Weise hatte ich schon an Holy Spider (und einigen anderen Projekten mit Bezug zu Iran und dem Nahen Osten) gearbeitet, mit meinem Wissen und meiner Kenntnis der Herausforderungen, die wir zu bewältigen hatten. Guy war von Anfang an sehr großzügig und sehr offen für alle Bedenken und Ideen, die ich und Elham, seine Co-Autorin, hatten. Auf diese Weise haben wir angefangen, und dann schlug Guy mir vor, seine Co-Regisseurin zu sein.

Guy Nattiv: Ich habe Holy Spider gesehen, und mein Verstand explodierte. Zar ist eine Naturgewalt. Ich wusste sofort, dass ich sie für die Rolle von Maryam, der Trainerin, haben wollte. Aber als wir uns dann kennenlernten, wurde mir sehr schnell klar, dass unsere Partnerschaft noch darüber hinausgehen könnte. Sie kam schnell als Casting-Direktorin an Bord, eine Rolle, die sie auch in Holy Spider für alle Farsi sprechenden Rollen übernommen hatte (mit Ausnahme von Arienne Mandi, die bereits gecastet worden war). Ihr außergewöhnlicher Geschmack, ihre Liebe zum Detail und ihre entschlossene Arbeitsmoral fielen mir sofort auf. Ich wollte als israelischer Filmemacher unbedingt mit einer iranischen Filmemacherin zusammenarbeiten, um diese iranische Geschichte zu erzählen. Mir war bewusst, dass Zar bereits ihr Regiedebüt plante. Das war ganz klar eine ihrer Ambitionen. Zar und ich haben genau denselben Filmgeschmack, eher europäisch, eher grenzüberschreitend, also war es ein sehr organischer Prozess. Es hat einfach Klick gemacht. Unser erster Drehtag war so, als hätten wir jahrelang als Partner zusammengearbeitet.

Zar Amir: Als Iranerin war ich mit einigen Sportlerinnen bereits vertraut, die eine ähnliche Geschichte hinter sich hatten. Ich hatte auch die Gelegenheit, eine Judoka kennenzulernen, die die gleichen Probleme zu bewältigen gehabt hatte und Teil eines Flüchtlings-Judoteams wurde! Es war einfach wichtig, diese Geschichte zu erzählen, und Guys künstlerische Vision war eine große Motivation für mich, bei dem Film mit dabei sein zu wollen. Eben nicht nur als Schauspielerin, sondern auch beim Casting und der Produktion und schließlich als Co-Regisseurin.

Wie haben Sie die Geschichte und die Erzählung für TATAMI entwickelt, nachdem Sie sich zur Zusammenarbeit entschlossen hatten? Inwiefern ist der Film von realen Ereignissen inspiriert?

Guy Nattiv: Elham und ich hatten das Drehbuch vor dem Ausbruch der Frauenrevolution geschrieben. Dabei haben wir uns von vielen iranischen Sportlerinnen inspirieren lassen, die das Unmögliche möglich gemacht haben. Sadaf Khadem, die erste iranische Boxerin, die nach Frankreich übergelaufen ist und sich für die Rechte der Frauen stark macht, war eine unserer Inspirationen. Sie hat viele Hindernisse überwunden und es geschafft, sich dennoch auf ihren Sport zu konzentrieren. Eine weitere heldenhafte iranische Sportlerin ist die Bergsteigerin Elnaz Rekabi, die ohne ihren Hidschab an Wettkämpfen teilnahm, obwohl sie wusste, dass ihr in ihrer Heimat dafür der Tod drohte. Und Kimia Alizadeh, die während der Olympischen Spiele in Rio die Galionsfigur des iranischen Fechtens war und wegen der Drohungen der Regierung beschloss, mit ihrem Mann zu fliehen. Zar und ich haben diesen Film nach dem Vorbild echter Menschen gedreht, aber nicht in einer Million Jahren hätten wir uns vorstellen können, dass die weibliche Revolution so bedeutend werden würde.

Zar Amir: Zunächst hatte ich meine Bedenken, als ich das Drehbuch einmal von Anfang an durchgelesen hatte, vor allem, was meine Figur Maryam anging, die als eine Art Verliererin-Heldin beschrieben ist. Elham und Guy waren aber sehr offen für andere Ideen bezüglich der iranischen Figuren. Das Drehbuch war fertig, sie hatten schon eine Weile daran gearbeitet, und ich hatte das Glück, Zugang zu haben zu ihren Recherchen und Informationen über Inspirationen aus dem realen Leben. Ich konnte außerdem meine eigenen Recherchen beisteuern und damit die Authentizität zusätzlich steigern. Unsere Zusammenarbeit begann damit, dass ich mich zunächst mehr oder weniger auf die Schauspieler und die iranischen Aspekte der Geschichte konzentrierte, während Guy die technischen Aspekte in den Fokus rückte. Als wir dann in den in den Drehprozess eintraten, verlief alles sehr reibungslos und fließend zwischen uns. Wir teilten unser schauspielerisches und technisches Fachwissen miteinander. Das setzte sich in gleicher Weise während der gesamten Postproduktion fort. Wir haben glücklicherweise einen fast identischen Filmgeschmack, und da wir die Herangehensweise sowohl an die Geschichte als auch die künstlerische Vision des Films teilten, konnten wir die Arbeit mit großem gegenseitigem Respekt realisieren.

Da die Geschichte fiktiv ist – warum sollte es um Judo gehen? Was hat Sie an diesem Sport gereizt? Was war interessant daran, ein einziges Turnier zu drehen?

Guy Nattiv: Ich liebe Filme, die einem das Gefühl einer tickenden Zeitbombe vermitteln, die an einem einzigen Ort spielen, die Klaustrophobie rüberbringen als Metapher dafür, wie sich die Hauptfiguren fühlen. Es war immer meine Absicht, diesen Film so sehr wie möglich in Echtzeit zu drehen, mit dem Drama abseits der Tatamimatten ebenso wie auf ihnen. Judo ist ein unglaublich körperlicher, menschlicher Sport. Er wird nur selten in Filmen gezeigt, und da sowohl Iran wie auch Israel in diesem Sport sehr gut sind, lag es auf der Hand, ihn zu thematisieren. Wir hatten das Glück, den brillanten Judoka Philippe Morotti zu finden, der das älteste Judo-Dojo in Los Angeles leitet. Er nahm sowohl Zar als auch Arienne unter seine meisterhaften Fittiche.

Erzählen Sie uns mehr über die beiden Hauptfiguren, zwei starke Frauen mit einer engen Bindung, die von größeren Mächten auf die Probe gestellt werden. Und generell darüber, dass diese Geschichte in einer fast ausschließlich weiblichen Welt spielt.

Guy Nattiv: Als wir mit dem Casting für Leila, die Kämpferin, begannen, waren wir sehr misstrauisch, ob irgendjemand die Rolle spielen könnte. Unsere Casting-Büros waren in Großbritannien und Frankreich, und wir haben weltweit gesucht. Sie musste eine glaubwürdige internationale Judo-Meisterin, knallhart, fließend Farsi sprechend und obendrein noch eine brillante Schauspielerin sein. Das war eine große Anforderung, eine hohe Hürde. Als Arienne Mandi ihr Band einschickte, spürten wir gleich tief drin, dass sie unsere Leila war. Sie verkörperte all das von uns Ersehnte, und vor allem war sie jemand, den man zwei Stunden lang auf der Leinwand sehen will. Bei ihrem letzten Vorsprechen bekamen wir alle eine Gänsehaut, sie legte eine bärenstarke stürmische Performance hin, eine regelrechte Tour de Force.

In gewisser Weise hat Zars Figur Maryam den größeren Handlungsbogen, als jemand, der von der Regierung erfolgreich unter Druck gesetzt wurde und nun die Chance hat, die Sünden der Vergangenheit wiedergutzumachen, die sie mit sich zu tragen hat. Zar ist eine der tiefgründigsten, emotionalsten und nuanciertesten Darstellerinnen, mit der ich je gearbeitet habe. Jeden Tag kam sie mit 100 neuen Ideen, um Maryam noch weiter zu vertiefen, noch feiner zeichnen zu können. Es war herrlich, ihr zuzusehen und diese Figur mit ihr zu formen.

Für mich musste dieser Film einfach aus der weiblichen Sicht erzählt werden. Als Frau im Iran zu leben, bedeutet heute, niedriger als ein Bürger zweiter Klasse zu sein, und nach der Ermordung von Mahsa Amini ist die Thematik noch brisanter, noch dringlicher. Sadaf Khadem, (die iranische Boxerin) war unsere Beraterin bei dem Film. Sie floh aus dem Iran, nachdem sie bedroht wurde, weil sie ihren Sport weiter ausübte. Sie war eine wichtige Quelle und große Inspiration.

Was war für Sie bei der Gestaltung von Maryams Charakter am wichtigsten, gab es etwas Bestimmtes, das Ihnen bei der Gestaltung Ihrer Darstellung geholfen hat?

Zar Amir: Um Maryam darzustellen, aber auch um Leila und die anderen Judokas zu inszenieren, griff ich auf meinen eigenen Rechercheprozess bezüglich des Judo zurück. Ich habe auch darüber nachgedacht, was es bedeuten würde, ein iranisches Team zu sein, mit seinen eigenen Besonderheiten und Nuancen, und das half dabei, Authentizität zu erzeugen. Die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert waren, und die ganz eigenen kulturellen Verhaltensweisen halfen mir, ihre Figuren und ihre Welt zu formen. Als Teil des Judo-Trainings, das ich lernen musste, musste ich mich so stark wie möglich iranischen Judokas annähern, sowohl in ihrer Sprache als auch in der Körpersprache.

Es ist nicht leicht, eine Balance zu finden zwischen filmischer Vision und einer universelleren Sprache, in die sich auch jeder hineinfühlen kann. Mit der Hilfe von Guy und Elham und auch meinen Judoka-Freund:innen habe ich es irgendwie geschafft, Maryam als Figur zu entwickeln und auch herauszufinden, wie die Beziehung zu Leila und dem System, unter dem sie zu leiden hat, aussehen musste. Das war eher ein persönlicher Ansatz, eine Reise für mich als Schauspielerin.

Arienne Mandi hat alle ihre Judo-Szenen selbst gedreht und trat dabei gegen echte olympische Sportlerinnen an. Wie sah der Vorbereitungsprozess aus, und was brauchte sie Ihrer Ansicht nach für den Film?

Zar Amir: Arienne ist nicht nur die Heldin des Films, sondern auch unsere eigene persönliche Heldin. Die Arbeit, die sie körperlich und auch als iranische Schauspielerin, die außerhalb von Iran aufgewachsen ist, geleistet hat, ihre Großzügigkeit und Intelligenz, ihr Talent und ihre Persönlichkeit in Kombination mit ihrer Professionalität, all das hat Leila und TATAMI zum Leben erweckt. Sie ist eine ernsthafte, hart arbeitende Schauspielerin mit Disziplin, immer offen für Herausforderungen. All das kommt im Film sehr gut zur Geltung.

Guy Nattiv: Philippe Moretti vom Hollywood Judo Dojo, das gerade sein 90-jähriges Bestehen gefeiert hat, ehrte uns damit, dass er Ari als Schülerin aufnahm. Ari drehte gerade „The L Word“ und arbeitete im Anschluss an die Dreharbeiten mit Philippe viele Monate lang nachts. Als sie anfing, wusste sie nichts über den Sport. Am Ende trat sie selbst in allen sechs Kämpfen gegen echte Weltmeister-Judokas an. Sie hat eine unglaubliche Athletik. Wir waren überwältigt.

TATAMI schafft ein echtes Gefühl von Intimität und Unmittelbarkeit. Können Sie uns ein wenig über Ihre Ideen verraten, wie die Geschichte erzählt und der Film gedreht wird?

Guy Nattiv: Das Drehbuch war ursprünglich chronologisch geschrieben, aber als wir zum Schnitt kamen, war uns bewusst, dass wir direkt mit dem Wettbewerb beginnen wollten. Es hat uns einige Zeit beim Schnitt gekostet, aber unser großartiger und sehr geduldiger Cutter Yuval Orr (Skin) half uns, die richtigen Stellen für die Rückblenden zu finden. Wir brauchten auch Schnipsel aus dem Leben, das diese Frauen verlassen. Und wir wollten auch junge moderne Iraner:innen zeigen, die Rap hören, Party machen und das Leben genießen, selbst wenn sie es in einem geheimen Untergrundclub tun müssen.

Können Sie uns ein wenig über die Dreharbeiten zu Tatami erzählen? Was war die Erfahrung, das Team zusammenzubringen, um ein Projekt wie dieses in Georgien zu drehen?

Guy Nattiv: Wir haben auf der ganzen Welt nach unserer Sportarena gesucht. Was uns an Tiflis gefiel, war die perfekte Kombination aus Alt und Neu. Das Stadion stammt noch aus der Sowjetzeit, hat aber eine spektakuläre goldene Kuppel, die ihm ein barockes Element verleiht.

Ich persönlich zog mit meiner ganzen Familie für drei Monate dorthin, zusammen mit meiner Frau und Produktionspartnerin Jaime Ray Newman, die im Film auch zu sehen ist in der Rolle der Stacey Travis, die Koordinatorin der Veranstaltung. Unsere Mädchen gingen in einen georgischen Kindergarten. Die Georgier waren unglaublich freundlich und großzügig und gaben uns das Gefühl, zu Hause zu sein.

Die Geschichte, auch wenn sie sehr spezifisch ist, hat universelle Themen und allgemeingültige Anziehungskraft. Worum geht es Ihrer Ansicht nach?

Zar Amir: Für mich geht es in dem Film darum, Grenzen zu überwinden, für Freiheit zu kämpfen, für die eigenen Werte und Ziele einzustehen und auf der Seite der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu stehen. Diese Themen werden immer universell sein, weil sie wichtig sind. Die Menschen mögen dieses Ringen auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Situationen erleben, aber letztendlich leben wir alle in ein und derselben Welt.

Guy Attiv: Meine Lieblingsfilme sind so spezifisch wie möglich, aber ihre Besonderheit ist es, die sie universell macht. Wie ein wilder Stier und La Haine waren große Inspirationen für diesen Film. Scorsese ist so spezifisch wie nur möglich in seinem Weltenbau. Aber der Grund, warum wir ihn alle lieben, ist meiner Meinung nach, dass wir uns in diesen Details wiederfinden. Wir alle mussten schon schwerwiegende Entscheidungen treffen, von denen wir wissen, dass sie richtig oder falsch sind, aber die Folgen, wenn wir uns für den richtigen Weg entscheiden, können sehr kompliziert sein. TATAMI ist für mich ein Thriller, und ich hoffe, dass die Zuschauer vom ersten Moment an mitgerissen werden.

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