Ein bissiger Blick auf die Menschheit

Biografie Das Wunder an Anderssons Filmen ist, dass sie das Unliebsame und nicht Ausgesprochene über uns Menschen sichtbar machen. Anmerkungen über einen transzendentalen Filmemacher vom Filmkritiker Larry Kardish
Wenn der Glaubensvorrat restlos aufgebraucht ist, kann der schlimmste Alptraum eines Pfarrers (Martin Serner) wahr werden
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Foto: Neue Visionen Filmverleih

Die Weltpremiere von ÜBER DIE UNENDLICHKEIT in Venedig ist für diejenigen, die die immensen Möglichkeiten des Kinos lieben, eine Gelegenheit zum Feiern gewesen. Andersson hat einen so unverwechselbaren und originellen Weg des Filmemachens entwickelt, dass seine Arbeiten ein eigenes Genre begründen. Sie haben viele bedeutende internationale Preise erhalten. Andersson hatte Retrospektiven rund um den Globus, darunter auch zwei in New York: 2009 im MoMA und im Museum of Arts and Design im Jahr 2015. Letztere lief unter dem Titel „Es ist schwer, ein Mensch zu sein“.

Roy Arne Lennart Andersson wurde 1943 in Gothenburg während des Zweiten Weltkriegs geboren, als Schweden, ein neutrales Land, Eisenerze an Deutschland verkaufte und gleichzeitig ein Schutzraum für geflüchtete Juden aus dem besetzten Dänemark und Norwegen war. Obwohl er damals ein Kleinkind war, hallt die ambivalente Haltung Schwedens während des Zweiten Weltkriegs in den Filmen des Künstlers und in ihrer Auseinandersetzung mit Genozid, Grausamkeit, teilnahmslosen Zuschauern und Rettung nach.

Andersson ist Absolvent der schwedischen Filmakademie. Seine frühen Werke sind sehr von der freigeistigen, kurzen, tschechischen Nouvelle Vague beeinflusst, zu der Regisseure wie Miloš Forman (DER SCHWARZE PETER, 1964 und DIE LIEBE EINER BLONDINE, 1965), Věra Chytilová (TAUSENDSCHÖNCHEN, 1966) und Jiří Menzel (LIEBE NACH FAHRPLAN, 1966) gehören. Wie seine tschechischen Vorbilder thematisierte Andersson in seinen eigenen studentischen Arbeiten Beziehungen zwischen Jugendlichen und Autoritätspersonen. Ebenso inspiriert durch die tschechische Filmkultur ist sein Einsatz von absurder Situationskomik als Quelle narrativer Spannung.

Roy Anderssons erster langer Spielfilm EINE SCHWEDISCHE LIEBESGESCHICHTE kam 1970 bei Presse und Publikum gleichermaßen gut an. Der Film erzählt die Geschichte einer jungen Liebe zwischen zwei Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu, die Probleme mit ihren Eltern haben. EINE SCHWEDISCHE LIEBESGESCHICHTE ist eine erfrischende, unsentimentale und ehrliche Chronik der verhinderten Hoffnungen. Die Zuschauer identifizierten sich mit den Protagonisten. Obwohl der Film als der „traditionellste“ gilt, den Andersson gemacht hat, deuten das „überraschende“ Ende und die etwas länger als üblich ausgehaltenen Kameraeinstellungen schon auf etwas „Anderes“ hin.

Das „Andere“ war der Film GILIAP (1975), der das Budget sprengte und der dem Regisseur einstimmigen Hohn in Schweden einbrachte. Andersson wollte nicht weiter im Stil von EINE SCHWEDISCHE LIEBESGESCHICHTE arbeiten. So durchbrach er seine Melancholie mit einer fantastischen Geschichte über einen neuen Angestellten in einem seltsamen, mittelmäßigen Hotel, das von einem Trupp schräger Persönlichkeiten bewohnt wird.

Dieses Scheitern brachte Andersson tatsächlich eine immense Bekanntheit in Schweden ein, denn nun begann er, Werbefilme zu drehen – fast 200 –, die sehr erfolgreich waren. Sie hatten nicht nur Haushaltsgeräte und Lebensmittel, sondern auch Versicherungssysteme und sogar Werbung für politische Parteien zum Gegenstand. Sein Humor ist trocken und überzeugend. Sein Landsmann Ingmar Bergman hielt ihn für den „besten Werbefilm-Regisseur der Welt“. Andersson entwickelte seine typische Art des Drehens mit diesen kleinen „Filmen“.

Anderssons Erfolg mit seinen Werbefilmen brachte ihm die finanziellen Mittel, um ein Produktionshaus in Stockholm, das Studio 24, zu bauen und 1981 eine engagierte Crew aus Technikern und Assistenten zu versammeln, die noch heute mit an Bord ist. Die Gründung eines eigenen Studios erlaubte Andersson, jenen eigenwilligen Stil konsequent umzusetzen, der ihn weltberühmt gemacht hat. Erst Kieślowskis DEKALOG brachte Roy Andersson dazu, zum Filmemachen zurückzukehren.

2006 organisierte das Studio 24 eine Galerieausstellung mit dem Titel „Schweden und der Holocaust“, die durch ganz Schweden wanderte und sich vorgenommen hatte, das Unbegreifliche – den Genozid in den Ländern rund um Schweden in den 1940er Jahren – begreiflich zu machen.

Anderssons Filme umfassen eine Reihe von Stand-Alone-Sequenzen: jede selbst quasi aus dem Gleichgewicht geraten, die als Ganzes zusammenhängen. Manchmal erscheint ein Protagonist aus einer absurden Szene in einer anderen Sequenz, was eine Art Erzählfluss schafft – aber nicht notwendigerweise. Die Filme entwickeln sich durch eine magische Reduktion visueller und akustischer Elemente, die genauestens von einem Künstlergenie kontrolliert werden. Wie es Andersson selbst formuliert: „Wenn man technische Perfektion mit einer schönen Energie und Poesie verbindet, dann ist es fantastisch. Das ist es, was ich erreichen möchte, und das ist sehr schwierig.“

Das Wunder an Anderssons Filmen ist, dass sie das Unliebsame und nicht Ausgesprochene über uns Menschen sichtbar machen. Und diese Geste ist von einer moralischen Verantwortung und Menschenliebe geprägt.

ÜBER DIE UNENDLICHKEIT ist, sagt Andersson, von der Rahmenhandlung von „Tausendundeine Nacht“ inspiriert, eine Sammlung von Erzählungen, die die jungfräuliche Braut Scheherazade ihrem Mann, dem König, Nacht für Nacht erzählt. Sie erzählt sie ihm, um ihre ungerechtfertigte Hinrichtung am nächsten Morgen wegen eines angeblichen zukünftigen Seitensprungs aufzuschieben. Scheherazade unterbricht ihre Geschichte immer wieder, um ihren Faden am nächsten Abend wieder aufzunehmen. Auf diese Weise hält sie den König hin und sich selbst am Leben. Am Ende nimmt der König seinen Befehl zurück, Scheherazade bleibt das Todesurteil erspart, die unterbrochene Erzählung hat ihr Leben gerettet.

ÜBER DIE UNENDLICHKEIT ist der reinste aller Roy-Andersson-Filme. Trotz seines bissigen Blicks auf die Menschheit schwebt der Film wie das Liebespaar über allem und seine Verzweiflung hat das Gewicht von Helium. Es ist ein authentisches, überragendes Werk. Ich bin, wie Scheherazades königlicher Ehemann, begierig auf noch mehr Andersson-Geschichten. Und ich freue mich ungeduldig auf ÜBER DIE UNENDLICHKEIT, Teil 1001.

15.09.2020, 14:57

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