Feinfühliger Geschichtenerzähler

Interview Christian Petzold über seine Faszination für den Undine-Mythos, seinen Gedanken, die Verzweiflung der Undine von einer Frau erzählen zu lassen, die den Fluch am eigenen Leib erfährt und das einzigartige Schauspieler-Duo Paula Beer und Franz Rogowski
Der Regisseur Christian Petzold
Der Regisseur Christian Petzold

Foto: Schramm Film/ Marco Krüger

Ihre letzten Filme hatten alle einen explizit historischen oder politischen Hintergrund, für Undine haben sie nun einen Märchenstoff als Ausgangspunkt gewählt.

Ich weiß gar nicht, ob man das so getrennt sehen kann. Undine erzählt von der Liebe, das haben Barbara, Phoenix und Transit auch gemacht. Aber da geht es um eine unmögliche Liebe oder eine zerstörte Liebe oder eine, die sich vielleicht entwickelt. Jetzt wollte ich einen Film machen, in dem man sieht, wie die Liebe entsteht und bleibt. Und unpolitische Geschichten gibt es nicht. Das Politische rutscht immer in die Geschichten rein.

Was verbindet sie mit dem Undine-Stoff?

Ich habe irgendwann in den 90er Jahren das Buch „Liebesverrat“ von Peter von Matt gelesen, in dem es ein Kapitel über den Undine-Mythos gibt, und das hat mich interessiert, der Liebesverrat. Die Undine-Geschichte kannte ich aus meiner Kindheit, aber ich kann mich ja an alle Dinge nur falsch erinnern. Vielleicht ist das eine Voraussetzung, um überhaupt Drehbücher zu schreiben, eine falsche Erinnerung, so wie eine falsche Zeugenaussage ... Woran ich mich gut erinnern konnte, war der Satz, den die Undine am Ende, nachdem sie den treulosen Mann getötet hat, seinen Dienern entgegenruft: „Ich habe ihn totgeweint.“ Dieser Satz von Fouqué hat mir immer gut gefallen. Diese Erinnerung hat sich gemischt mit anderen Versionen, Lortzing oder Hans-Christian Andersen, die kleine Meerjungfrau, wo das Motiv noch einmal anders vorkommt, und irgendwann habe ich auch Ingeborg Bachmann gelesen, „Undine geht“. Das hat mir gefallen, dass da die Undine spricht und nicht irgendwelche Erzähler oder Männer. Da spricht eine Frau. So könnte man einen Film machen, dachte ich, wenn es um die Undine geht, um die Verzweiflung der Undine. Der Fluch bei Ingeborg Bachmann ist der, dass die Männer niemals treu sind, weil sie sich im Grunde nur selber lieben. Und diesen Fluch zu brechen, aus einer weiblichen Perspektive, kam mir als richtige Erzählhaltung vor. Dass die Undine bei uns nicht wieder zum Waldsee will. Dass sie nicht töten will. Da ist ein Mann, Christoph, der sie zum ersten Mal um ihrer selbst willen liebt, und das ist eine Liebe, für die sie kämpft.

Haben Sie sich in der Vorbereitung durch die unzähligen Versionen des Undine-Stoffes gearbeitet?

Nein. Die Märchen, an die man sich erinnert, die Mythen, die von der Mutter vorgelesen worden sind, die muss man nicht nochmal lesen. Die Weltsicht ist, glaube ich, in der Erinnerung aufgehoben, und wenn man eine Geschichte schreiben will, finde ich die Unschärfen oder die weißen Flecken enorm wichtig. Die Verdichtung, die Verkürzung, all das ist ja Erzählung. Die Märchen, die aufgezeichnet worden sind, von den Brüdern Grimm oder anderen, sind mündlich tradiert, die sind irgendwann erzählt und weitererzählt worden, die haben sich immer weiter verändert. Und ein paar Dinge sind gleich geblieben. Das Kino steht für mich mehr in dieser Tradition der mündlich weitergegebenen Erzählung als in der Recherche in der Staatsbibliothek.

Ihre Undine ist Stadthistorikerin in Berlin, eine Stadt, die Ihr Film immer wieder aus der ungewöhnlichen Perspektive des Modells zeigt.

In der Zeit, als ich über einen möglichen Undine-Film nachdachte, zeigte mir Christoph Hochhäusler diese fantastischen Berlin-Modelle, die im Berliner Stadtmuseum ausgestellt sind. Berlin ist eine Stadt, die auf Sümpfen gebaut ist, die im Grunde genommen eine Welt trockengelegt hat, um Großstadt zu werden. Und sie hat keine eigenen Mythen, sie ist eine zusammengesetzte, moderne Stadt. Als frühere Kaufmannsstadt hat sie ihre Mythen immer importiert. Ich habe mir vorgestellt, dass all die Mythen und Geschichten, die die reisenden Kaufleute hierher gebracht haben, durch die Trockenlegung der Sümpfe wie in einem Watt herumliegen und langsam vertrocken. Gleichzeitig ist Berlin eine Stadt, die ihre eigene Geschichte mehr und mehr ausradiert. Die Mauer, die identitätsstiftend für Berlin war, wurde innerhalb kürzester Zeit abgerissen. Wir haben einen Umgang mit Vergangenheit und Geschichte in Berlin, der brutal ist. Auch das Humboldt-Forum ist Vergangenheitszerstörung, weil der Palast der Republik Teil der Berliner Geschichte ist. Und das, dachte ich, diese zerstörten Vergangenheiten, diese Rest-Mythen sind Teil unserer Undine-Geschichte.

In Ihrem Film „Gespenster“ haben Sie die eher märchenhaften Aspekte Berlins gezeigt, da wirkt der Tiergarten gleich hinter dem Potsdamer Platz wie ein verwunschener Ort.

Der Vergleich mit „Gespenster“ ist interessant. „Gespenster“ basierte im Grunde auch auf einem Märchen, „Das Totenhemdchen“ der Brüder Grimm: Ein Kind, das gestorben ist und jede Nacht aus seinem Grab kommt und sich zur Mutter setzt und sagt: Du musst aufhören, um mich zu weinen, sonst kann ich nicht sterben. Das Märchen kommt aber im Film nicht vor, das taucht da vielleicht in dem kleinen See im Tiergarten auf, den der Lenné entworfen hat, der auch Romantiker war, wie Fouqué. Zwischen 2004, als wir „Gespenster“ gedreht haben, und heute ist aber etwas passiert mit der Stadt. Die Geschichten ändern sich. Auch die Sagen und die Mythen ändern sich. Undine ist nicht mehr die Undine von Fouqué, sondern eine moderne Frau, an der aber noch der Fluch der Vergangenheit klebt. Und sie macht etwas, was im alten Undine-Mythos nicht vorgesehen ist, sie steigt aus. Sie dient nicht dem vergangenen Mythos, sondern sie zerstört ihn.

Ein guter Teil Ihres Films spielt unter Wasser, in Szenen von einer ganz eigenen Magie.

In dem Film „Berlin Babylon“ von Hubertus Siegert, über den Berliner Stadtumbau nach dem Mauerfall, sieht man, wie Industrietaucher im Wasserbecken unter der Baustelle des Potsdamer Platzes arbeiten. Das war einmal der verkehrsreichste Platz Europas, beinahe ein Mythos, und nun sollen da die scheußlichsten Gebäude errichtet werden. Diese Aufnahmen fand ich toll, die Taucheranzüge, die an Jules Verne erinnern, die Arbeiter, die da im Grunde genommen einen Mythos zerschweißen. Die arbeiten an der Zerstörung eines mal organisch gewachsenen Zentrums, um ein neues Zentrum aufzubauen, das nicht wächst, sondern diktiert ist. Man hat das Gefühl, wahnsinnig gewordene Modelleisenbahner planen den Potsdamer Platz. Und darunter, im Wasser, sind noch Reste vom alten Zauber zu spüren. Das hat Jules-Verne-Charakter, dieses Abenteuer, die Leute, die da unter Wasser schweißen, in einer Stadt, die an dieser Stelle eigentlich untergegangen war.

Ihr See ist kein verwunschener Waldsee, sondern ein Stausee irgendwo zwischen Romantik und Industrialisierung.

Der See, an dem wir gedreht haben, liegt in der Nähe von Wuppertal, der Region, in der ich aufgewachsen bin. Die Wupper ist ein Fluss, der eine Grenze markiert, der Styx des Industriezeitalters. Thyssen ist da entstanden, eine kleine Schmiede an der Wupper, die zum Weltkonzern wurde, weil sie den damals besten Stahl der Welt, den Schweizer „blauen Stahl“ kopiert hat und dann hier wesentlich billiger produzieren konnte. Diese Industrie brauchte viel Energie, deshalb sind alle Zuflüsse der Wupper heute Talsperren, für Energie oder Trinkwasser. Und weil das Industriezeitalter, in dessen Anfängen sie gebaut wurden, noch keine eigene Ästhetik hatte, sehen sie oft aus wie alte Kirchen. Da ist beides drin, das gestaute Wasser, die Energie, und ein geflutetes Tal, in dem mal ein Dorf war. Unten ist ein geheimnisvolles, verborgenes, Leben, die alten Geschichten, und oben ist die Moderne, der Stahl, und beides ist im selben Raum. So wollte ich die Geschichte bauen, im selben Raum. Und diese verfluchten Wesen, die in den Märchen und Mythen da unten im Wasser ihr Unwesen treiben, die tauchen als Reste in dem Film auf.

Sehen Sie Undine als eine Märchenfigur?

Wir haben ja schon über „Gespenster“ gesprochen. Die Gespensterfilme handeln von Gespenstern, die Menschen werden wollen. Die Terroristen in „Die innere Sicherheit“ wollen Vater und Mutter sein, sie wollen ein Leben haben. Vielleicht ist das im Grunde das Thema aller meiner Filme. Und vielleicht kann man sagen, dass Undine eine Märchenfigur ist, die Mensch werden will. Und wir sehen sie bei der Verwirklichung dieses Wunsches. Sie ist ja schon Mensch, sie will Mensch bleiben. Wenn sie mit Christoph tauchen geht, verschwindet sie plötzlich, als ob das Wasser sie in ihr Element zieht, sie kann sich an nichts erinnern, sie sagt, nein, hier will ich gar nicht mehr hin. Aber die Fluchwelt, die Mythenwelt lässt sie nicht los, die klebt an ihr, die ist brutal, die zieht sie unter Wasser ... Das ist ein ganz armseliger Spielraum, den die Märchen und Mythen Undine lassen, die Mythen der Männer. Undine ist eine Frau, die der Projektionsarbeit der Männer entkommen muss.

Ist es möglich, diesem Fluch der Projektion zu entgehen?

Ich fand immer die Figuren interessant, die hundert Jahre zu früh auf der Welt sind, die für etwas stehen, was noch nicht ist. Und vielleicht ist Undine auch so eine Figur, die zu früh den Fluch kritisiert und kämpfen muss. Als sie den Johannes, den Mann, der sie verraten hat, stehen lässt, ist sie frei. Sie geht nach Hause, liegt auf dem Bett und hört „Stayin‘ Alive“, die Musik, zu der sie wiederbelebt worden ist, von dem Mann, der sie liebt. Da ist sie frei. Und genau in diesem Moment schlägt der Fluch wieder zu. Wenn man sich am freiesten fühlt, ist man am angreifbarsten. Der Fluch der alten Welt verlangt ihr einen unfassbaren Preis für ihre Freiheit ab. Aber für diesen Moment lohnt es sich. Sie erhält sich diesen Moment der Freiheit, damit das, was sie erlebt hat, gegenwärtig bleibt. Deswegen gehört der letzte Blick im Film ihr. Wir sehen die Welt aus ihrem Blick. Das war extrem wichtig.

Wie haben Sie sich auf die Unterwasserszenen vorbereitet?

Ich habe mir in der Vorbereitung viele Filme angeguckt. Der verzaubertste Unterwasserfilm, den ich kenne, ist „20.000 Meilen unter dem Meer“ von Richard Fleischer. Da gibt es eine Szene, in der James Mason, Kapitän Nemo, und seine Leute einen Verstorbenen unter Wasser beerdigen, mit einem Muschelkreuz, in ihren schweren Taucherausrüstungen. Das beobachten Kirk Douglas und die anderen Erdlinge, und in diesem Moment verzaubert diese Welt unter Wasser sie auch. So ähnlich, dachte ich mir, müsste es in unserem Film auch sein: Dass wir irgendwann 20.000 Meilen unter dem Meer sind, unter dem heutigen Berlin und der heutigen Welt mit ihren Modellen und Erklärungen, Träumen und Zerstörungen – und dass für einen Moment die Ursprünge der Modelle, die Ursprünge des Zaubers spürbar sind. In das riesige Becken, das es in den Babelsberg-Studios gibt, haben wir eine ganze Unterwasserwelt hineingebaut, bevor das Wasser hineingelassen wurde, mit Torbögen, Pflanzen, massiv gefügten Staumauern, der Turbine. Es war mir wichtig, dass diese Welt real existierte, dass wir nur in Details auf Computeranimationen zurückgreifen mussten. Der Zauber liegt im physisch Greifbaren, im gebauten Modell, so wie in den Berlin-Modellen, die wir im Film haben. Wenn der Franz Rogowski und die Paula Beer tauchen, dann musste das wirklich sein, sie mussten wirklich vor einer Staumauer unter richtigen Pflanzen hindurch in eine Höhle hineintauchen können. Den Wels mussten wir animieren, Fische kann man nicht dressieren. Aber bevor diese Arbeit losging, waren die VFX-Spezialisten fünf Tage beim Drehen in unserer echten Unterwasserwelt dabei, das war die Referenz für die extrem aufwändige Animation am Computer. Sie musste sich in den Zauber des Wirklichen unserer Unterwasserwelt einfügen.

Haben Sie für die Unterwasserszenen mit den Schauspielern geprobt?

Im Wasser habe ich kaum Kontakt mit den Schauspielern, ich kann nicht wirklich mit ihnen proben. Deshalb habe ich für diese Szenen, zum ersten Mal, ein komplettes Storyboard und eine sehr exakte Shooting List gemacht, für jede Einstellung und jede Bewegung. Die war für Hans Fromm, den Kameramann, enorm wichtig. Wir haben ja eine Erzählung gefilmt. Das konnten wir nicht kurzfristig festlegen, wie ich das sonst in den Proben am Drehtag mache. Es gab den Unterwasser-Kameramann, Sascha Mieke, und wir hatten einen Monitor oben. Über die Lautsprecheranlage unter Wasser konnten die Schauspieler uns hören, aber die Kommunikation musste sehr reduziert sein. Also haben wir vorher alles theoretisch durchgearbeitet, dann sind die Schauspieler unter Wasser gegangen, manchmal haben sie die Bewegungen probiert, sind wieder aufgetaucht, und wir haben das kurz besprochen. Dann ging es los, Bild eins, ihr gleitet durchs Wasser und nehmt euch an der Hand ... Das haben wir gedreht, dann kam die Frage: Wollt ihr auftauchen oder schafft ihr die nächste Einstellung noch, die Subjektiven, bevor wir das Licht umbauen müssen? Wir hatten diese Szenen bewusst an den Anfang der Dreharbeiten gelegt. Das war wahnsinnig anstrengend, aber es war auch gut, weil davon ein richtiger Schub ausging.

Haben Sie auch für die übrigen Szenen mit einem Storyboard gearbeitet?

Nein, die Choreografie der anderen Szenen haben wir in den Proben erarbeitet. Die Schauspieler mögen das, wenn sie tanzen können, wenn sie körperlich sein können, wenn sie nicht das Gefängnis des Lichtes und der Markierung haben. Und wir überlegen dann, wie die Kamera diesen Tanz darstellt oder sogar an ihm teilnimmt. Was Franz und Paula da machen, ist immer choreografiert. Wir drehen immer in längeren Plansequenzen. Wir haben die Probe, dann bauen wir die Kamerabewegung und die Schauspieler spielen die ganze Szene. Dann bauen wir eine zweite Kamerabewegung, die Schauspieler spielen wieder die ganze Szene, und dann habe ich alles, daraus kann ich die ganze Szene gewinnen. Die kommen zur Kamera, die gehen wieder weg, ich habe die Nahe, die Totale, alles in einer Plansequenz. Es geht darum, dass sich die Schauspieler nicht verbrauchen. Das passiert schnell, besonders bei Liebesszenen, irgendwann stellen die Schauspieler das her, und man spürt das. Es kommt auf den Moment an, wo die Neugierde auf das, was der andere macht, noch da ist.

Paula Beer und Franz Rogowski haben schon in „Transit“ gespielt. Was schätzen sie an den beiden so sehr?

Ich dachte bei „Transit“, die sind so toll miteinander, so innig, aber jetzt spielen die eine Liebe, die nicht wirklich werden kann. Ich würde ihnen gerne eine Liebesgeschichte geben, die weiter geht. Und da habe ich den beiden im Mont Ventoux, der Pizzeria im Film, in einer Mittagspause die Undine-Geschichte erzählt, die damals noch ganz am Anfang war. Das hat mir sehr viel Freude gemacht, und ich habe gemerkt, dass ihnen die Geschichte auch Freude gemacht hat. Im Zusammenspiel ist da ein ungeheures körperliches Vertrauen, was die beiden haben. Das habe ich so noch nie zwischen zwei Schauspielern erlebt. Ich weiß nicht, woher das kommt, jede Berührung, jeder Blick, das ist alles voller Vertrauen und Respekt, mit einer ungeheuren Offenheit. Man kann immer alles gemeinsam besprechen, mit beiden zusammen. Paula Beer ist eine der sehr seltenen Schauspielerinnen, die sehr jung und gleichzeitig imstande sind, Erfahrungen auszudrücken, die andere erst sehr viel später machen. Und beides ist immer gleichzeitig da, das Jungsein, das Jungsein-Wollen, und die Lebenserfahrung. Und Franz Rogowoski ist sicher der physischste Schauspieler in Deutschland. Es gibt auch wenige, die so gucken können. Das Physische von Franz liegt auch darin, was er mit seinen Händen macht, wie er anfasst. Das sind Hände, die etwas können. Bei Franz hat man immer das Gefühl, dass er die Welt physisch wahrnimmt, dass er Lust an der Welt hat.

Wie erarbeiten Sie die Auflösung?

Wichtig waren bei „Undine“ zwei Perspektiven: Undine und die Welt. Der Film ist die Geschichte von Undine, und wenn sie die Welt verlassen hat, ist es die Geschichte des Suchenden, von Christoph. Und wenn es die Welt gibt und jemanden, der auf die Welt blickt und durch die Welt geht, hat man im Grunde genommen nur zwei Perspektiven: Auf den Blickenden und auf seinen Blick, also auf die Welt. Es gibt ganz wenige Totalen, an der Talsperre, auch die Modelle, da war mir klar, das ist die Welt, und in dieser Welt treiben diese beiden Liebenden wie Fische im Aquarium. Das Wichtigste ist, sich zu überlegen: Wer erzählt hier? Um wen geht es, wer guckt hier? Das ist die entscheidende Frage im Kino. Schaut die Kamera zu, nimmt sie teil? Wo stelle ich mich hin? Warum stehe ich da? Das sind Fragen, die man sich dauernd stellen muss. Man kann sich natürlich dahin stellen, wo es schön aussieht. Aber das ist keine Einstellung. Wir haben dieses Bild, wo Undine und Christoph am Holzsteg liegen und sich küssen, als ob sie aus einem Bild des französischen Impressionismus entsprungen wären, aus einem Gemälde von Manet. Das machen wir aber nicht deswegen, weil das Bild so schön aussieht, sondern weil wir später dieselbe Einstellung nochmal machen, wenn der Franz Rogowski zum Schluss ins Wasser geht. Aber dann ist er alleine, und es ist Nacht. Und durch die Erinnerung an das romantische Bild von vorher wird der Verlust der Frau, die er liebt, klar. Seine Einsamkeit wird durch die Bilderinnerung klar. Da schauen wir als Erzähler auf dieses Manet-Bild, das ist ein Erzählerbild, aber das ist ein Erzählerbild, weil der Erzähler zweimal auftaucht.

Der französische Impressionismus war mehr Referenz als die deutsche Romantik?

Ich hatte darüber gar nicht so sehr nachgedacht. Die haben natürlich etwas miteinander zu tun. Wenn man das genau überlegt, sind die ganzen Bilder, die wir am See gemacht haben, im Grunde genommen Bilder, die über den Umweg des französischen Impressionismus die deutsche Romantik nochmal bebildern. Aber das ist eben nicht Caspar David Friedrich, das sind nicht die deutschen romantischen Bilder, sondern das ist schon gebrochen, mit Licht, mit Auflösung. Das hat mir gefallen. Wahrscheinlich haben wir deswegen in der Vorbereitung mehr Manet-Bilder angeguckt als Caspar David Friedrich. Aber wir kommen ja nicht ganz raus aus der deutschen Romantik, da kann man machen, was man will. Wir müssen sie von einer anderen Seite her angehen, über die Impressionisten, über das Kino, über Edward Hopper ... Die Undine erfährt den Zauber in diesem Film außerhalb des Wassers. Mir war der Zauber wichtig, der in der Gegenwart, durch die Liebe entsteht, und nicht, weil alles schon wie ein verzauberter Ort aussieht. Die Talsperre in der Morgendämmerung, die Unterwasserwelt, die versunkene Stadt, der Wels, das sieht toll aus, das erschließt sich sofort. Aber das Appartment, in dem Undine lebt, ist kein gewachsener, verzauberter Ort, nur die Liebe der beiden verzaubert ihn. Zwei Liebende, die es schaffen, mit ihrer Liebe einen hässlichen Ort zu verzaubern, das finde ich beeindruckend.

30.06.2020, 16:44

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