„Unruh ist das mechanische Herz einer Uhr“

Interview Der Regisseur Cyril Schäublin spricht im Interview über die Hintergründe seines Films „Unruh“. Ein Film, der auch mit seiner eigenen Familiengeschichte zu tun hat. Eine der anarchistischen Uhrmacherinnen ist von seiner Großmutter inspiriert
„Unruh ist das mechanische Herz einer Uhr“

Foto: Grandfilm

Was hat es mit dem Filmtitel auf sich?

Die Unruh ist das mechanische Herz einer Uhr. Die Herstellung der Unruh wurde hauptsächlich von Frauen durchgeführt. Meine eigene Großmutter und meine Großtanten arbeiteten in einer Uhrenfabrik in der Nordwestschweiz, und als ich sie für meine Recherchen befragte, erzählten sie mir, dass bereits ihre eigenen Mütter, Tanten und Großmütter ihre Tage mit der Herstellung dieser Unruh verbrachten.

Wie ist die Idee zum Film entstanden?

Die Idee, einen Film über eine Uhrenfabrik zu machen, hatte ich schon während meines Filmstudiums in Berlin. Also begann ich, meine Verwandten zu besuchen, die in diesen Fabriken gearbeitet haben, um ihre Erinnerungen und Erfahrungen zu sammeln. Wichtig war auch das Buch La condition ouvrière der anarcho-syndikalistischen Philosophin Simone Weil, in dem sie ihre Arbeit in einer Stahlfabrik beschreibt. Ich interessierte mich für den Alltag in einer Uhrenfabrik und dafür, wie er die Wahrnehmung der Zeit bei der Belegschaft prägt. Simone Weil spricht von der Kadenz als einem Druckmittel auf die Belegschaft, sich wiederholende Arbeiten nach Zeitintervallen zu erfüllen, die ihnen aufgezwungen werden und oft keinen Raum für ihren eigenen Arbeitsrhythmus lassen.

Wie kam der Anarchismus in den Film?

Während seines Anthropologiestudiums in England entdeckte mein Bruder Emanuel, der mich später als ethnographischer Berater für den Film unterstützte, die anarchistische Theorie und Bewegung des 19. Jahrhunderts und ihre Verbindungen zur Schweizer Uhrenindustrie. Er brachte mich dazu, Texte des russischen Anarchisten Pyotr Kropotkin zu lesen. Als ich über das autobiografische Zitat stolperte, in dem Kropotkin beschreibt, wie er zum Anarchisten wurde, nachdem er ein Schweizer Uhrmachertal und dessen anarchistische Bewegung besucht hatte, wusste ich sofort, dass dies Teil des Films sein würde – neben einer Figur, die von meiner eigenen Großmutter inspiriert war, einer Uhrenfabrikarbeiterin, die die Unruh herstellte.

Was ist die Verbindung zwischen der Uhrenindustrie und dem Anarchismus?

In ihren Anfängen war die sozialistische Bewegung im 19. Jahrhundert, die für die Rechte der Arbeiterklasse kämpfte, eine gigantische Organisation, die sogenannte Erste Internationale, mit Marx und Engels als ihren mehr oder weniger selbst ernannten Vordenker:innen und Anführer:innen. Im Jahr 1871 veröffentlichte eine Sektion der Schweizer Uhrenarbeiter:innenbewegung aus Sonceboz einen Zirkularbrief, in dem sie die autoritäre Rolle von Marx und Engels innerhalb der sozialistischen Bewegung kritisch hinterfragte. Der Brief stieß in der internationalen sozialistischen Bewegung auf dermaßen große Aufmerksamkeit und Sympathie, dass eine neue Gruppe innerhalb der sozialistischen Bewegung gegründet wurde. Sie bezeichnete sich selbst als Erste Anti-Autoritäre Internationale in Opposition zur kommunistischen Ersten Internationalen. Der erste Kongress dieser neuen Gruppe fand 1872 in der Schweizer Uhrmacher-Gemeinde Saint Imier statt. Der Kongress zog Mitglieder und Besucher:innen aus ganz Europa und Russland an. Viele spanische, italienische aber auch deutsche Anarchist:innen blieben in dem Tal und druckten dort Zeitungen und Bücher, welche illegal ins Ausland geschmuggelt wurden. In den folgenden Jahren wurde das Tal zum Treffpunkt der internationalen anarchistischen Bewegung. Die meisten Schweizer Anarchist:innen, wie Adhémar Schwitzguébel oder Auguste Spichiger, waren Uhrmacher:innen. Das hat auch damit zu tun, dass die Schweizer Uhrenindustrie einerseits eine riesige Industrie war, die bereits in den frühen 1870er Jahren jährlich Millionen von Uhren ins Ausland exportierte und den Großteil der Uhren auf dem Weltmarkt produzierte. Andererseits war die Uhrenindustrie im Vergleich zu anderen Industrien zu dieser Zeit noch äußerst dezentralisiert. Diese Dezentralisierung der Produktion lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass die Herstellung einer Uhr sehr komplex war und mehr als 315 verschiedene professionelle Arbeitsschritte umfasste. Dadurch konnten die Werkstätten, die die verschiedenen Teile herstellten, eine gewisse wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit bewahren, die offenbar den autonomen und anarchistischen Geist unter den Arbeiter:innen förderte, den Pyotr Kropotkin in seinen Memoiren festzuhalten versucht.

Was hat es mit der Liebegeschichte im Film auf sich?

Meine ursprüngliche Idee war es, die „Liebesgeschichte“, den bekannten „Boy-meets-Girl“-Aspekt, in eine Art Persiflage des Genres zu packen. Sie gipfelt in der Schlussszene, wenn die Begegnung zwischen Josephine und Pyotr von den Leuten, die ihre Fotos kaufen, fiktionalisiert und vermarktet wird. Amüsanterweise fiktionalisiert und vermarktet die „Liebesgeschichte“ auch den eigentlichen Film und wertet ihn dahingehend vielleicht auf. Aber letztlich nimmt der Film, zumindest für mich, eine Position ein, die weit von einer Persiflage entfernt ist. Dass Liebe schlussendlich undefinierbar und unbeschreiblich ist, auch wenn die Bilder von Josephine und Pyotr sichtbar und käuflich sind. Arthur Rimbaud sagte über die Liebe, dass sie neu erfunden werden müsse („L‘amour est à réinventer“). Ich denke, die Liebe bringt uns auch dazu, unsere Welt neu zu erfinden, unsere Vorstellungen von der Welt und wie wir uns in ihr bewegen.

Wieso die Entscheidung, mit Laiendarsteller:innen zu arbeiten?

Ich wollte Situationen aus den 1870er Jahren einerseits mit Menschen nachstellen, die mit der heutigen Uhrenindustrie verbunden sind, aber auch mit Freund:innen von mir, oder Menschen die ich zufällig getroffen habe, Menschen die Lastwagen fahren, Architekt:innen sind, in Restaurants arbeiten, oder Dächer flicken, um ihre Miete zu bezahlen. Der Wunsch war, mit diesem Ensemble eine Art Sprache der Vergangenheit reproduzieren zu können, die nicht „historisch“ klingt. Ich war an einer Alltagssprache interessiert, die von den im Film auftretenden Personen gesprochen wird. Ich stellte mir vor, dass diese Art von marginalisierter und zufälliger Alltagssprache in den 1870er Jahren genauso existiert haben muss wie heute.

Im Film gibt es keine Musik, mit Ausnahme von zwei Chören. Warum?

Für mich war es entscheidend, nicht nur die anarchistische Bewegung in dem Uhrmacherort mit ihrem internationalistischen, pazifistischen und egalitären Ansatz zu zeigen. Ich wollte auch Situationen mit der entgegengesetzten politischen Partei der damaligen Zeit nachstellen, der liberalen, autoritären, patriarchalischen und nationalistischen Bewegung, die ja schlussendlich historisch in der Gestaltung der aktuellen Schweiz aber auch Europas viel einflussreicher war. Durch die Gegenüberstellung von Situationen dieser beiden Bewegungen wird das Publikum dazu eingeladen, sich eine eigene Meinung darüber zu bilden, wie sich Gesellschaften die Vergangenheit vorstellen, um ihre Gegenwart zu gestalten. Die beiden Chöre und ihre Lieder, deren Texte aus demselben Zeitraum der 1860 70er Jahre stammen, repräsentieren vielleicht diese Idee einer symmetrischen Gegenüberstellung der beiden dominierenden politischen Bewegungen in einer Schweizer Uhrmachergemeinde. Das eine ist die alte Schweizer Nationalhymne, das andere ist ein anarchistisches Lied mit dem Titel Der Arbeiter hat kein Vaterland (L‘ouvrier n‘a pas de patrie).

05.01.2023, 07:24

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