Ein schweizer Sommer der Anarchie

Zum Film 1877: der russische Kartograf Pyotr Kropotkin kommt in ein Tal im Schweizer Jura, angelockt von der hochentwickelten Uhrenfertigung dort und von der Nachricht, dass sich Arbeiter*innen zu einer anarchistischen Gewerkschaft zusammengeschlossen haben
Ein schweizer Sommer der Anarchie

Film: Grandfilm

Pyotr Kropotkin trifft in „Unruh“ auf eine Gesellschaft, in der Beamte und Gendarmen über die richtige Uhrzeit wachen und dem Produktionsbetrieb und der Gemeinschaft den Takt vorgeben. Immer effizienter werden die Produktionsabläufe in den Uhrmanufakturen organisiert, die sekundengenaue Kontrolle erzeugt einen steigenden Druck auf die Beschäftigten. Davon kann auch Josephine ein Lied singen, die über die Montage der Unruh, des Herzstücks der mechanischen Uhr, wacht und den zugereisten Kropotkin kennenlernt. Inspiriert von anarchistischen Ideen fordern sie die Befreiung der Zeit, setzen Solidarität und Pazifismus gegen Marktgesetze und Nationalismus.

Regienotiz

Meine Großmutter arbeitete in einer Uhrenfabrik in der Nordwestschweiz, wo sie das mechanische Herz der Uhr, die sogenannte Unruh, herstellte. Viele Frauen in meiner Familie waren in der Uhrenindustrie des 19. und 20. Jahrhunderts tätig. Ich wünschte mir, über ihre Arbeit und die Zeit, die sie in den Fabriken verbracht haben, einen Film zu machen. Und dabei auch der anarchistisch geprägten Gewerkschaftsbewegung der Uhrmacher:innen des 19. Jahrhunderts Aufmerksamkeit zu schenken. Ausgehend von den historischen Ereignissen, die das Uhrmachertal von Saint-Imier in der Nordwestschweiz zum politischen Epizentrum der wachsenden internationalen anarchistischen Bewegung machten, rekonstruiert der Film Ereignisse und Situationen in einer Uhrmacherstadt im Jahr 1877.

Der Film erzählt auch von der Begegnung zwischen Josephine Gräbli, einer Uhrenfabrikarbeiterin, die die Unruh herstellt, und Pyotr Kropotkin, einem russischen Reisenden und Kartografen. Die Figur des Pyotr ist dem realen Pyotr Kropotkin (1842–1921) nachempfunden. Sein Buch Memoiren eines Revolutio- närs, in dem er beschreibt, wie er in der Schweiz zum Anarchisten wurde, war eine wichtige Inspiration für den Film. Die Begegnung zwischen Josephine und Pyotr findet in einer Zeit statt, in der neue Technologien wie die Zeitmessung, die Fotografie und der Telegraf die soziale Ordnung veränderten und sich anarchistische Ideen einem aufkommenden Nationalismus entgegengesetzt sahen. Indem im Film Situationen der 1870er Jahre nachgestellt werden, wird das Publikum dazu eingeladen, die Beschaffen- heit unserer Gegenwart vielleicht noch einmal neu zu betrachten.

Handelt es sich bei den Definitionen von Zeit und Arbeit, die im frühen industriellen Kapitalismus entwickelt und etabliert wurden, vielleicht nur um Fiktionen? Wie bestimmen Konstruktionen wie die “Nation” und andere Erfindungen des 19. Jahrhundert die Art und Weise, wie wir heute zusammenleben, wie wir Zeit und Arbeit organisieren und erleben? Gibt es so etwas wie eine kapitalistische Mythologie, die unser tägliches Leben unterschwellig mitbestimmmt? Und welche anderen Erzählungen wären möglich?

– Cyril Schäublin, Regisseur von „Unruh“

05.01.2023, 07:24

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