Vermiglio zeigt ein fast vormodernes Leben in der Mitte des 20. Jahrhunderts auf sehr dichte, atmosphärische und gleichzeitig sehr organische Weise. Wie haben Sie recherchiert? Spielten persönliche oder familiäre Erinnerungen eine Rolle?
Es ist schon immer meine Arbeitsweise, dass ich lange an den Orten bin, von denen ich erzählen will. Ich tauche da selbst ein, mit allen fünf Sinnen. Das ist ein kreativer Moment, der dafür sorgt, dass der Film auf seinem eigenen Boden wächst und sich dann organisch entwickeln kann, wenn er gut gewässert wird. Wie eine Pflanze. Um Vermiglio zu schreiben, habe ich viel Zeit in dem Haus verbracht, in dem meine Großmutter ihre vielen Kinder zur Welt gebracht hat, in den Mauern, in denen mein Vater und seine Geschwister aufgewachsen sind. Für diesen Film war es auch notwendig, durch die Zeit zu reisen. Es hat mir deshalb sehr geholfen, ein Familienarchiv voller Fotos zu haben, das ich bereits gut kannte und das ich nun mit anderen, aufmerksameren Augen ansah. Diese persönliche Beziehung zum Ort war für mich sehr hilfreich, direkt und indirekt: Einerseits für eine Art von phylogenetischer Erinnerung, bewusst oder unbewusst, an die Geschichten, die ich als Kind gehört hatte, für die Erinnerung an den Geruch der Küche meiner Großmutter, für das Wiedererkennen der eigenen Züge in den Gesichtern und Bewegungen der Menschen, und andererseits dafür, erkennen zu können, was und wer von der Zeit verändert wurde und wer, zum Glück für diesen Film, noch ihre Spuren trägt. Um das Casting vorzubereiten, habe ich viel Zeit in Bars verbracht: Jeder dieser Männer war mein Großvater. In den Kirchen, unter all den Frauen, sah ich meine Großmutter. Die Enkelin des Lehrers von damals zu sein, machte es mir anfangs natürlich leichter, Zugang, Vertrauen und sogar Zuneigung zu finden. Schließlich tragen fast alle in Vermiglio die gleichen vier oder fünf Nachnamen, und Delpero ist einer davon.
Wie in Ihrem vorherigen Film Maternal stehen auch in Vermiglio die Frauen im Zentrum, die Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern, die Frage, was es bedeutet, sowohl Mutter als auch unabhängige Frau zu sein. Aber jetzt spielen die Männer eine viel größere Rolle.
Wenn ich „realistische“ Filme mache, bin ich sehr darauf bedacht, der Realität verbunden zu bleiben. In Maternal, wie auch in meinem vorherigen Dokumentarfilm Nadea und Sveta, waren Männer in dem von mir beschriebenen Umfeld völlig abwesend, es wäre schwierig gewesen, sie einzubeziehen. In der Welt, die ich in Vermiglio beschreibe, sind sie teilweise abwesend, weil sie im Krieg sind. Dafür erzähle ich von denen, Kinder oder Erwachsene, die nicht weggegangen oder die zurückgekehrt sind. Die Welt und die Geschichte, die ich erzähle, diktieren mir ihre Regeln, ich kümmere mich nur darum, sie entsprechend meinen moralischen oder dramaturgischen Positionen zu transportieren. Abgesehen von dieser inneren Kongruenz in der Geschichte habe ich sicherlich, zumindest in den letzten Jahren, die Neigung entwickelt, von Frauen zu erzählen, sowohl aus persönlichen als auch aus ideologischen Gründen. Einerseits fand ich es interessant, sie in den Mittelpunkt der Geschichte zu stellen, ihre Perspektive zu priorisieren und so eine Tendenz des klassischen Kinos umzukehren, andererseits war es ein Fokus, der sich für mich natürlich anfühlte: Ich hatte das Gefühl, dass ich weiß, wie man von Frauen erzählt, ohne an der Oberfläche zu bleiben. Was die Mutterschaft betrifft, so habe ich im Nachhinein festgestellt, dass sie wie ein roter Faden in meiner Arbeit ist. Es ist ein Thema, für das ich mich nicht entschieden habe. Es war ein inneres Bedürfnis, ein Thema, das meinen Kopf und mein Herz berührte. Es filmisch zu behandeln, war etwas, das sich aufdrängte. Das heißt nicht, dass ich nicht über Männer sprechen will oder kann. Im Gegenteil, ich habe sehr gerne von Cesare, Pietro, Attilio, Dino oder den Kindern erzählt. Wo es Menschlichkeit mit all ihren Widersprüchen gibt, da ist meine intellektuelle und menschliche und deshalb auch filmische Neugierde.
Es geht in Ihrem Film auch um den Konflikt zwischen Tradition und Moderne, ein Thema, das von etlichen großen italienischen Regisseuren behandelt wurde.
Vermiglio handelt von einer Gemeinschaft, in der das, was nicht greifbar ist, räumlich oder zeitlich, durch die Vorstellungskraft geschaffen wird, wobei man sich vielleicht auf einen einzigen Bezugspunkt stützt. So wird der Atlas des Vaters zu einem Gefäß für die Sehnsüchte der Schwestern, wie ein Fenster zur Welt. Gleichzeitig bringt der historische Moment, von dem im Film erzählt wird, ein „davor“ und ein „danach“ in Bezug auf den Krieg mit sich, was wie zu einer Wasserscheide zwischen zwei Welten wird. Der dramaturgische Weg, den wir gewählt haben, ist der eines Films, der als Ensemblestück anfängt und die Erfahrungen aller Familienmitglieder miteinander verwebt und sich dann mehr und mehr auf seine Protagonistin konzentriert. Tatsächlich ist es Lucia, die mit dem Grenzen sprengenden Weg betraut wird, der die Tür zu einer neuen Gesellschaft öffnet. Sie schultert die größere Bewegung, die dem Film zugrunde liegt, wird von ihren Schultern getragen, die Transition vom Konflikt zum Wiederaufbau, von der alten zur modernen Welt, vom Land zur Stadt, von der Gemeinschaft zum Individualismus. Die Geschichte wird metaphorisch und gleichzeitig anthropologisch, soziologisch und politisch geschichtet: Lucia wird zur Metapher für die Nachkriegs-Transition, sie wird, durch Unglück und Notwendigkeit, zur Protagonistin einer Überwindung, zur Frau einer neuen Zeit.
Gab es künstlerische Referenzen und Einflüsse, die für Sie wichtig waren?
Was die filmischen Einflüsse angeht, so habe ich nie direkte Referenzen. Natürlich gibt es sie, aber ich erkenne sie erst im Nachhinein oder werde in der Entwicklungsphase danach gefragt. Die Wahrheit ist, dass ich immer damit anfange, auf mein Inneres zu hören, auf das, was mich umtreibt, an Gefühlen und Bedürfnissen. Der künstlerische Ausdruck verdankt sich immer zum Teil denen, die uns vorausgegangen sind, von denen wir gelernt haben und die wir geliebt haben. Ermanno Olmi ist sicherlich einer der Regisseure, die ich am meisten respektiere, besonders einige seiner Filme trage ich in meinem Herzen. Auch De Sica ist ein Filmemacher, den ich liebe. Oder Hanekes Das weiße Band, an dem ich die Geschichte einer kleinen Gemeinschaft sehr geschätzt habe. Ich habe das Gefühl, dass es auch andere Einflüsse auf meine Arbeit gibt, auch wenn das von außen vielleicht schwieriger zu erkennen ist, fotografische, malerische, musikalische und vor allem literarische Einflüsse. Mir hat die Idee gefallen, dass man in diesem Film „umblättern“ kann, indem man die Schicksale verschiedener Figuren aus derselben Familie verfolgt, wie in einem Roman. Natalia Ginzburg zum Beispiel ist eine Autorin, die es versteht, über das alltägliche Leben zu sprechen – aber das ist nur einer der vielen Namen, die mir einfallen. Ehrlich gesagt, fällt es mir schwer, meine Einflüsse zu benennen, weil sie auf einer unbewussten Ebene wirken.
Wie kamen Sie dazu, mit dem Kameramann Mikhail Krichman zu arbeiten, der vor allem durch seine Arbeit mit Andrey Zvyagintsev bekannt ist?
Es ist überraschend, wie unterschiedlich seine Bildgestaltung in Vermiglio ist. Mir gefällt die Arbeit von Mikhail mit Andrey sehr, auch wenn sie tatsächlich sehr verschieden von der in Vermiglio ist. Mich hat vor allem der malerische Charakter seiner Bilder interessiert. Ich schickte ihm alle Bildreferenzen, die ich während der Recherche gesammelt hatte, malerische und einige fotografische Referenzen, insbesondere zum Autochrom-Verfahren, einer Technik vom Anfang des letzten Jahrhunderts, die darin besteht, Schwarz-Weiß-Fotos mit Primärfarben zu kolorieren. Ich hatte lange über die Farbe des Films nachgedacht. Ich wollte nicht nostalgisch werden, da ich die Vergangenheit als sehr gegenwärtig empfand, und ich wollte sowohl Schwarzweiß als auch zeitgenössische, gesättigte Farben vermeiden. Also schlug ich Mikhail vor, auf der Basis von entsättigten Farben zu arbeiten, auf die wir einige Primärfarben auftragen konnten, um einen warmen Ton zu erzeugen. Wobei die Konzeption der Bildgestaltung über die Farbe hinausgeht, zum Beispiel, wie wir mit dem Fokus umgegangen sind: Die Protagonisten und die Landschaft sind immer zugleich im Fokus, um die Beziehung zwischen Mensch und Natur, zwischen dem Kleinen und dem Großen zu erzählen.
Vermiglio stützt sich stark auf die nonverbale Ausdruckskraft seiner Darsteller, in diesem Fall besonders Martina Scrinzi als Lucia und Tommaso Ragno als ihr Vater. Wie haben Sie Ihre Schauspieler gefunden?
Was mir vorschwebte, war ein Film mit mehr Bildern als Worten, deshalb war es besonders wichtig, die richtigen Gesichter zu finden. Das war um so notwendiger, da es sich um einen historischen Film handelt: Es mussten „alte“ Gesichter sein, die die Zeichen früherer Zeiten tragen. Vielleicht greift das Wort „Gesichter“ zu kurz, es handelt sich um eine ganze Reihe von Eigenschaften, Bewegungen und all dem Ungreifbaren und Unbenennbaren, das ein Mensch mit seinen Gesichtszügen ausdrückt. Martina bewegt sich nicht wie ein Stadtmädchen durch die Welt, nicht nur, weil sie wirklich in einem abgelegenen Bergdorf lebt, sondern weil sie, in ihrer Physiognomie, eine Art Aura der Antimoderne ausstrahlt, wie ein altes Gemälde, das wir zeitlich schwer einordnen können. Wir haben uns viele gute Schauspielerinnen in ganz Italien angeschaut, wobei wir uns bei unserer Suche dann auf nichtprofessionelle Schauspielerinnen in der Region konzentriert haben. Mit Martina haben wir ein verstecktes Juwel gefunden. Mit Tommaso, der ein sehr bekannter Schauspieler ist, habe ich am Tonfall und den Bewegungen gearbeitet, nicht nur, weil er eher ein Stadtmensch ist, sondern auch, weil die Figur von Cesare komplex und widersprüchlich ist, eine seltsame Mischung aus Dorfbewohner und Intellektuellem. Ein Mann, der aus der bäuerlichen Welt kommt, er ist ein Teil von ihr, aber er geht über sie hinaus. Er ist patriarchalisch, hat aber auch Anwandlungen von Modernität. Man kann ihn lieben und hassen. Was Tommaso bereits mitbrachte, waren die Farben und Merkmale einer bestimmten norditalienischen Region und ebenso seine Fähigkeit zu einer eleganten Erscheinung.
Sie zeigen das Leben im Bergdorf unsentimental, ohne seine Schönheit zu verbergen, aber auch mit seinen Entbehrungen und gelegentlicher Brutalität. Lucias Vater, der Lehrer Cesare, kauft Platten für sein Grammophon, auch wenn er sich die eigentlich nicht leisten kann. Bietet die Kunst einen Ausweg aus den Beschränkungen des Dorflebens?
Ich mag solche Situationen sehr, in denen alle teilweise Recht haben, weil uns das unaufhörlich in Frage stellt. In der Szene mit den Schallplatten hat Adele vollkommen Recht: Die dringendste Notwendigkeit der Familie ist, ihre Kinder zu ernähren und sie vor den Auswirkungen des Krieges schützen. Aber welche Eltern würden nicht wollen, dass ihre Kinder eine Unterrichtsstunde wie die von Cesare über Vivaldi besuchen? Wer wäre nicht damit einverstanden, dass junge Menschen in die Schönheit der Kunst eingeführt werden, die die Welt rettet, insbesondere dann, wenn sie durch den Nihilismus des Krieges verwüstet wird? Mich hat nicht irgendeine idealisierende Sentimentalität in Bezug auf die Vergangenheit interessiert. Ich habe versucht, eine Realität sowohl in ihrer Schönheit als auch in ihrer Rauheit zu zeigen. Beide sind da, ich zeige sie, ohne Werturteile abzugeben, damit die Zuschauer.innen sie mit ihrem eigenen Blick betrachten können.
Die Beziehung zwischen den drei Schwestern ist sehr besonders. Sie sind sich sehr nahe, und doch gibt es Geheimnisse zwischen ihnen. Eines davon ist die Freundschaft zwischen Virginia und der mittleren Schwester Ada.
Die Beziehung zwischen dem Persönlichen und dem Individuellen innerhalb einer Gemeinschaft interessiert mich sehr. Wie sehr unterscheiden wir uns als Individuen innerhalb eines Geflechts von Beziehungen, das uns als Familie definiert? Wer wäre Ada ohne eine Schwester wie Flavia geworden? Ihr Schicksal als Schülerin wäre wahrscheinlich ganz anderes verlaufen. Dieses „Bett der Geheimnisse“ ist eine wichtige Ebene des Films. Alles war damals unaussprechlicher, strafbarer, besonders was die Freiheit der Frauen betraf, ihre eigenen Wünsche zu leben. Die Freundschaft mit Virginia ist eine Beziehung der Faszination innerhalb der Rollen von Macht, und gleichzeitig ist es die Geschichte zweier Einsamkeiten, die sich begegnen. Tatsächlich ist das, was wir an der Oberfläche vor allem wahrnehmen können, die Anziehungskraft derer, die uns erwachsener und schöner vorkommen, ebenso, wie man zur Frau wird, ohne genau zu verstehen, was mit uns geschieht. Aber der interessanteste Aspekt ist vielleicht gerade diese Begegnung am Rand: Ada, die Schwester, die weniger Beachtung findet, Virginia, die Halbwaise, die unter der gewalttätigen Beziehung zu ihrer Mutter leidet. Virginia ist, wie viele Rebellen, eine Figur auf der Suche nach Liebe, ein einsames Mädchen, für das diese Welt mit ihren patriarchalischen Regeln unausweichlich eng ist. In dieser Beziehung zwischen Gleichen und Ungleichen ist interessant, dass es zu einer Bewegung kommt: In der letzten Umarmung kehrt sich das Aktiv-Passiv-Verhältnis um, es ist jetzt die schüchterne Ada, die beschließt, die Hand auszustrecken.