Mein Vater verließ uns an einem heißen Sommernachmittag. Er schaute uns, bevor er sie für immer schloss, mit den großen, erstaunten Augen eines Kindes an. Ich hatte gehört, dass man wieder zum Kind wird, wenn man alt ist, aber ich wusste nicht, dass diese beiden Altersstufen in einem einzigen Gesicht verschmelzen können.
In den folgenden Monaten kam er mich im Traum besuchen. Er war in das Haus seiner Kindheit zurückgekehrt, nach Vermiglio. Er war sechs Jahre alt und hatte die Beine eines Steinbocks. Er lächelte mich zahnlos an, und er trug diesen Film unter dem Arm: Vier Jahreszeiten im Leben seiner großen Familie. Eine Geschichte von Kindern und Erwachsenen, zwischen Todesfällen und Geburten, Enttäuschungen und Wiedergeburten, von ihrem Zusammenhalt in den Wirren des Lebens, von ihrem Weg von der Gemeinschaft zum Werden von Individuen. Eine Geschichte von den hohen Bergen mit ihren Wänden aus Schnee. Vom Geruch von Holz und heißer Milch an eisig kalten Morgen. In einem Krieg, der weit weg und doch immer gegenwärtig ist, erlebt von denen, die außerhalb der großen Maschinerie blieben: Die Mütter, die die Welt von der Küche aus beobachteten; mit Neugeborenen, die starben, weil die Bettdecken zu kurz waren; die Frauen, die in der Sorge lebten, Witwen zu werden; die Bauern, die auf Kinder warteten, die nie zurück- kehrten; die Lehrer und Priester, die die Väter ersetzten. Eine Kriegsgeschichte ohne Bomben und große Schlachten. In der unerbittlichen Logik der Berge, die die Menschen jeden Tag daran erinnert, wie klein sie sind.
Vermiglio ist eine Seelenlandschaft, ein „Familienlexikon“, das in mir lebt, an der Schwelle zum Unbewussten, ein Akt der Liebe zu meinem Vater, seiner Familie und ihrem kleinen Dorf. Indem er eine persönliche Zeit durchquert, will der Film eine Hommage an eine kollektive Erinnerung sein.
– Maura Delpero, Regisseurin von Vermiglio