„Filmische Ethnografie von innen“

Biografie Christoph Hübner und Gabriele Voss gehören zu den wichtigen zeitgenössischen Dokumentaristen. Durch ihr filmpolitisches Engagement haben sie wichtige Beiträge zur Wahrnehmung des Dokumentarfilms als einer eigenständigen Form des Films beigetragen
„Filmische Ethnografie von innen“

© 2024 Film Kino Text

Christoph Hübner und Gabriele Voss

Regisseure

Christoph Hübner und Gabriele Voss (beide 1948 geboren) gehören zu den wichtigen zeitgenössischen Dokumentaristen.

Nach Abschluss der Filmhochschule (CH) und des Literaturstudiums (GV) in München, den ersten Filmen im Ruhrgebiet und früher Lehrtätigkeit in Hamburg zogen sie Ende der siebziger Jahre ganz ins Ruhrgebiet und begannen in Langzeitbeobachtungen und Film-Zyklen das Ruhrgebiet filmisch zu vermessen. Es entstand u.a. der viereinhalbstündige Film LEBENS-GESCHICHTE DES BERGARBEITERS ALPHONS S., für den sie 1980 den Adolf-Grimme-Preis erhielten. Mit dem fünfteiligen Filmzyklus PROSPER/EBEL – CHRONIK EINER ZECHE UND IHRER SIEDLUNG, der über drei Jahre Alltag und Arbeit auf einer Zeche und in einer Zechensiedlung im Norden des Ruhrgebiets schildert, etablierten sie den Begriff der Filmischen Geschichtsschreibung. Von 1995 bis 1998 setzten sie den Filmzyklus Prosper/Ebel fort, der Film „Das Alte und das Neue“ entstand. Brüche und Veränderungen in Deutschlands größter Industrieregion deuten sich darin an.

In der Reihe MENSCHEN IM RUHRGEBIET porträtierten sie künstlerische Biografien vor dem Hintergrund der Landschaft Ruhrgebiet. Um 1998 begann dann die Arbeit an der Fußballtrilogie CHAMPIONS, die in drei langen Kino-Dokumentarfilmen die Entwicklung einiger Jugendtalente von Borussia Dortmund über einen Zeitraum von über 20 Jahren dokumentiert. In den Jahren 2006 – 2015 entstand der Filmzyklus EMSCHERSKIZZEN, der in ca. 60 kurzen dokumentarischen Filmen vom Umbau einer Flusslandschaft und von ihren Anwohnern erzählt.

2018 2022 folgt der letzte Film des PROSPER/EBEL Zyklus unter dem Titel VOM ENDE EINES ZEITALTERS, der in 155 Minuten das Ende der Steinkohlenzeit beschreibt.

Als „filmische Ethnografie von innen“ kann man ihre Arbeiten im Ruhrgebiet sehen. 1978 hatten sie dazu mit anderen Beteiligten das RuhrFilmZentrum gegründet und mit ihm die Vision einer nachhaltigen regionalen Filmarbeit entwickelt. Zugleich waren sie maßgeblich an der Entstehung der ersten selbstverwalteten kulturellen Filmförderung in NRW beteiligt. Für Ihre Filmarbeit im Ruhrgebiet und ihre allgemeinen Verdienste um den NRWFilm erhielten Hübner und Voss 2004 den Verdienstorden des Landes NRW.

Ein weiterer thematischer Schwerpunkt ihrer Filme ist das Thema Deutschland und deutsche Geschichte. Nach der LEBENS-GESCHICHTE DES BERGARBEITERS ALPHONS S, der die Alltags-Geschichte der Jahre 1904 39 aus der Sicht eines Arbeiters beschreibt, entstand in den Jahren 1990 – 93 der dokumentarische Spielfilm ANNA ZEIT LAND (mit Angela Schanelec und Steff Adams), der zwei Frauen durch das Deutschland der Wendezeit schickt. 2006 entstand der Film THOMAS HARLAN WANDERSPLITTER, in dem es ähnlich wie in ihrem Film NACHLASS (2017) um die Kinder und Enkel der Nazizeit geht. NACHLASS erhielt auf dem International History Filmfestival in Rijeka den „Grand Prix“ und war für den Preis der Deutschen Filmkritik und den Adolf-Grimme-Preis nominiert.

Parallel beschäftigten sich Hübner & Voss immer wieder mit Fragen der Kunst und des künstlerischen Handwerks. Schon die Reihe MENSCHEN IM RUHRGEBIET hatte das zum Thema, 1989 entstand der dokumentarische Kinofilm VINCENT VAN GOGH DER WEG NACH COURRIÈRES, der u.a. von der frühen Zeit des Malers als Zeichner der Bergarbeiter, Bauern und Weber handelt.

In den Jahren 1995 – 2012 entsteht unter dem Titel DOKUMENTARISCH ARBEITEN für den Sender 3sat eine Reihe von 16 jeweils einstündigen Gesprächsporträts mit andren Dokumentaristen (u.a. Klaus Wildenhahn, Elfi Mikesch, Peter Nestler, Johan van der Keuken, Harun Farocki, Thomas Heise, Nikolaus Geyerhalter). Dabei ging es vor allem um die unterschiedlichen Autorenhaltungen und die Arbeit an der dokumentarischen Form – etwas, was in der öffentlichen Wahrnehmung von Dokumentarfilm kaum einmal vorkommt. Die Filme MANDALA (2012, über einen Besuch bhutanischer Mönche im Ruhrgebiet) und TRANSMITTING (2013, über eine Marokko-Reise mit dem Jazz-Pianisten Joachim Kühn) schildern die Begegnung mit unterschiedlichen Kulturen.

Über Fragen der Form und der dokumentarischen Haltung geht es auch in ihrem gemeinsam mit dem Filmkritiker Bert Rebhandl herausgegebenen Buch FILM/ARBEIT (Berlin 2014). Dort versammeln sie Texte, die neben und zu ihrer Filmarbeit entstanden sind und Einblick geben in die „Werkstatt“ des dokumentarischen Arbeitens.

Gabriele Voss, die u.a. für die Montage der Filme verantwortlich ist, hatte zuvor schon ein Buch über dokumentarische Dramaturgie und Schnitt verfasst („Schnitte in Raum und Zeit“, Berlin 2006), das inzwischen eine Art Standard-Werk zur dokumentarischen Filmmontage geworden ist.

2017 und 2018 wurden mehrere Filme von Hübner und Voss in die Liste des „Nationalen Filmerbes“ aufgenommen und konnten dadurch mit Mitteln der FFA restauriert und neu digitalisiert werden. Sie stehen damit der Öffentlichkeit als Kinokopie oder elektronisch wieder zur Verfügung. Man findet die Filme von Hübner & Voss in den Verleihen von Real Fiction, Film Kino Text und der Stiftung Deutsche Kinemathek.

15.04.2024, 11:26

Film: Weitere Artikel


Ein Ort, der alles zusammenhielt

Ein Ort, der alles zusammenhielt

Zum Film Die Geschichte des Ruhrgebiets ist seit 150 Jahren eine Migrationsgeschichte, in deren Kern immer die Frage stand, wie können wir zusammenarbeiten und leben. Die alltägliche Beantwortung dieser Frage stiftete den Menschen damals ihre Identität...
Die Zukunft hat schon begonnen

Die Zukunft hat schon begonnen

Interview Ein Interview mit den Regisseuren Christoph Hübner und Gabriele Voss
Umfassendes Filmepos

Umfassendes Filmepos

Netzschau Stimmen aus dem Netz: „In gewisser Weise begann die Entstehung dieses Filmprojektes 1978. Damals, als es noch die alte Bundesrepublik gab, kaum jemand an ein Ende des fossilen Zeitalters dachte und das Ende des Bergbaus erst seinen Anfang nahm.“

Vom Ende eines Zeitalters | Trailer

Video Christoph Hübner und Gabriele Voss haben über 40 Jahre die Veränderungen im Ruhrgebiet beobachtet und Protagonisten begleitet, deren Leben von den großen Veränderungen um ihre Arbeitsplätze geprägt waren


Christoph Hübner | Haus des Dokumentarfilms

Video Elisa Reznicek vom Haus des Dokumentarfilms im Gespräch mit dem Filmemacher und Produzenten Christoph Hübner über die Auswirkungen der Corona-Krise und das mögliche Leben danach


Gabriele Voss u. Christoph Hübner | Interview

Video Interview mit Gabriele Voss und Christoph Hübner zu ihrem aktuellen Film: "Vom Ende eines Zeitalters"das Interview führt Jürgen Lütz (film kino text)


Gefahr unter Tage | Dokumentation

Video Die Geschichte des Bergbaus ist auch eine Geschichte der Katastrophen. Jedes Jahr sterben Menschen bei Stolleneinstürzen oder unterirdischen Gasexplosionen, die meisten davon in China