Von kämpferischen Frauen

Nahaufnahme Die Regisseurin Janna Ji Wonders zieht uns als Zuschauer*innen mit „Walchensee Forever“ so sehr in den Bann, dass wir vielleicht nicht die Antworten, doch viele der Fragen, die unsere Herkunft und damit uns selbst ausmachen können, finden
Die Regisseurin Janna Ji Wonders kann für ihren Film auf einen großen filmischen Schatz zurückgreifen: 100 Jahre privates Archivmaterial, darunter zahllose Videoaufnahmen.
Die Regisseurin Janna Ji Wonders kann für ihren Film auf einen großen filmischen Schatz zurückgreifen: 100 Jahre privates Archivmaterial, darunter zahllose Videoaufnahmen.

Foto: Flare Film

Der Walchensee. Still, dunkel und unergründlich liegt er da. Er ist einer der tiefsten und größten Alpenseen Deutschlands. Der Walchensee ist ein magischer Ort, der den Familienmitgliedern unserer Geschichte Schutzraum und Gefängnis zugleich scheint. Der unsere Protagonisten immer wieder davon treibt und magnetisch zurückzieht. Wie ein unsterblicher Chronist überdauert der See alle Zeiten und bietet die Kulisse, vor der sich eine deutsche Familiensaga abspielt.

1920, eine Familie – Mutter, Vater, Kind – zieht an den Walchensee in Bayern und eröffnet dort ein Ausflugscafé, das bis heute existiert. Die Mutter, genannt Apa, ist eine imposante Frau, stolz, streng, geschäftstüchtig. Eine Tochter ist ihr an der Spanischen Grippe zugrunde gegangen. Ihr bleibt die Erstgeborene, Norma. Die ist fröhlich, fleißig, fügsam und zäh. Sie wird das Café übernehmen. Sie wird von ihrem Mann, einem gutaussehenden Künstler, verlassen werden, da dieser die Übergriffe der Schwiegermutter auf ihr Privatleben nicht ertragen wird. Norma wird nie klagen. Sie wird zwei Töchter zur Welt bringen, Anna und Frauke. Und sie wird 105 Jahre alt werden.

Anna und Frauke werden ihre Mutter und den Walchensee ebenfalls verlassen. Sie wollen sich befreien und die große weite Welt als Musikerinnen ergründen. Sie werden zurückkommen an den Walchensee, später in München in einer Kommune um Rainer Langhans leben. Tochter Frauke verzehrt sich nach der großen Liebe. Sie will eine richtige Familie. Sie wird stattdessen auf mysteriöse Weise sterben. Tochter Anna, die ältere der beiden, hat keine konkrete Idee von Familie. Sie wird ein Kind bekommen, Janna, mit einem Amerikaner, aber kein klassisches Familienleben führen. Stattdessen wird Anna ihr Leben lang den Tod von Frauke mit sich tragen. Und sie wird die Fragen, die sie an das Leben und an den Tod hat, an ihre Tochter Janna weitergeben.

Dieses Familienepos basiert auf einem einmaligen filmischen Schatz. Janna Ji Wonders arbeitet sich durch rund 100 Jahre privates Archivmaterial, das jede einzelne Generation akribisch gesammelt hat. Früheste 8mm-Filmaufnahmen, ungewöhnliche Fotografien und detailreiche Briefe lassen uns nicht nur aus nächster Nähe teilhaben an einer dramatischen Familiengeschichte. Diese einzigartigen Dokumente zeichnen in ihrer Dichte ein Psychogramm der deutschen Gesellschaft der letzten hundert Jahre.

Es ist kein Zufall, dass die Regisseurin Janna Ji Wonders nun diejenige ist, die sich an den Film macht, der schon vor 100 Jahren angelegt ist. Jannas Mutter Anna, eine Fotografin, hat ihre Tochter von Geburt an gefilmt, sie als Kleinkind vor der Kamera inszeniert und interviewt. Janna nimmt seit ihrer Kindheit auch selbst die Kamera in die Hand und stellt kontinuierlich Fragen zurück an ihre Mutter Anna und an ihre Großmutter Norma. So entsteht ein Dialog in der Jetztzeit, der uns organisch in die Vergangenheit führt und wieder zurück in die Gegenwart – bis hin zur Geburt von Jannas eigener Tochter während der Entstehungszeit des Filmes.

So schließt sich der Kreis einer Geschichte, die von Frauen erzählt, von denen jede auf ihre Weise den patriarchalen Strukturen ihrer Zeit trotzt. Das Prinzip Mutter-Tochter wird so in einem einzigen Film mehrfach durchgespielt.

16.10.2021, 18:35

Film: Weitere Artikel


Faszinierende Jahrhunderterzählung

Faszinierende Jahrhunderterzählung

Zum Film Um den Geheimnissen ihrer Familie und ihrer Rolle in der Generationskette auf die Spur zu kommen, führt uns Wonders vom Familiencafé am Walchensee über Mexiko nach San Francisco, zu indischen Ashrams, einem Harem und wieder zurück an den Walchensee
Preisgekrönte Filmemacherin

Preisgekrönte Filmemacherin

Biografie Nach mehrfach ausgezeichneten Kurzfilmen im Dokumentarbereich ist „Walchensee Forever“ Janna Ji Wonders‘ Langfilmdebüt. Gemeinsam mit der Film-Editorin Anja Pohl gelingt ihr eine Rekonstruktion, die uns in einem andauernden Zustand des Staunens hält
Ein magischer Film

Ein magischer Film

Netzschau „[S]o spora­disch und erratisch hier Fami­li­en­ge­schichte erzählt wird, mit all ihren nie und nimmer zu erklä­renden Leer­stellen, so kalei­do­sko­pähn­lich formt sich auch das Bild eines Deutsch­lands heraus ...“

Walchensee Forever | Trailer

Video Eine aufregende Entdeckungsreise, die einen außergewöhnlichen Blick auf mehrere Generationen gewährt, ist „Walchensee Forever“: Fragen nach Identität und Heimat werden gestellt, wie auch die Suche nach Liebe, Leben und Tod thematisiert


Walchensee Forever | Interview

Video Regisseurin Janna Ji Wonders erzählt die Geschichte der Frauen ihrer Familie über ein Jahrhundert. Verbindendes Element und stiller Chronist ist der bayerische Walchensee, an dem die Familie 1920 ein Ausflugscafé eröffnet, das bis heute existiert


Walchensee Forever | Interview

Video Astrid Schilling leitet und moderiert ein Filmgespräch mit der Regisseurin Jonna Ji Wonders, die ihren Dokumentarfilm „Walchensee Forever“ im Rahmen des DOK.Fest München @home 2020 präsentiert


Walchensee Forever | Filmkritik

Video In ihrem Dokumentarfilm erzählt die Filmemacherin Janna Ji Wonders ihre Familiengeschichte, deren Akteur*innen sich immer wieder gegen die bürgerlichen Strukturen der Zeit auflehnen und versuchen sich von ihnen abzugrenzen. EIne Filmkritik