Krankheiten haftet selten etwas Erhabenes an. Wahrscheinlich wurden deshalb bisher eher Sachbücher aus den Themenbereichen Politik, Technik und Soziologie mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Bis zum vergangenen Jahr: Da bekam ein Buch diesen wichtigsten amerikanischen Publizistik-Preis, das sich einem der schlimmsten Leiden der Menschheit widmet: Krebs, dem König aller Krankheiten – wie das Werk von Siddhartha Mukherjee auf Deutsch heißt. Es ist ein erhabener Titel. Und ohne zuviel vorwegzunehmen: Das Buch, in dem es auf fast 700 Seiten um nichts anderes als Krebs geht, ist es auch.
Das Ziel von Der König aller Krankheiten ist dabei nicht leicht zu erkennen. Der Untertitel nennt es eine „Biografie“ des Krebses. Ist es das? Als Mukherjee zu schreiben b
Als Mukherjee zu schreiben begann, hatte er gerade sein Universitäts-Abschluss gemacht und sah sich als Arzt nun mit der klinischen Realität von Krebs konfrontiert. Patienten. Leid. Hoffnung. Und viel zu oft: Tod. Onkologen gelingt es selten, ihre Arbeit auszublenden, der Krebs ergreift auf eigene Art Besitz von ihnen. Auch deshalb wollte Mukherjee Protokoll führen – um, wie er sagt, „in den Geist dieser unsterblichen Krankheit einzudringen, ihre Persönlichkeit zu verstehen, ihr Verhalten zu entmystifizieren“.Dem Ansinnen nach ist das Buch also Biografie. Doch ob Krebs eine „Persönlichkeit“ besitzt, steht nicht im Zentrum des Buches. Vielmehr hat Mukherjee ein komplexes, kulturhistorisches Epos verfasst, das zwar nicht beispiellos ist für ein amerikanisches Sachbuch – aber für ein medizinisches allemal.Überkommende Dogmen, ärztliche HybrisIm Mittelpunkt: Der Mensch, wie er seit Jahrtausenden mit einer physischen Bedrohung hadert, ringt, immer wieder kämpft. Es ist der Kampf gegen eine Krankheit, die sich auf mysteriöse Weise schon immer von anderen Leiden zu unterscheiden schien und von der man heute weiß, dass sie es tatsächlich tut. Zugleich geht es aber auch um den eigenen Horizont, die Grenzen des Wissens, es ist ein Kampf gegen überkommene Dogmen und ärztliche Hybris.Oft muten diese menschlichen Kämpfe bei Mukherjee noch unerbittlicher an, als der Kampf gegen den Krebs selbst. Da sind die Anatomen der Renaissance, die an Galens Humoralpathologie der „Säfte“ zweifeln und sich Studienobjekte auf Armenfriedhöfen und Galgenackern beschaffen – um zu zeigen, dass Krebs nicht von „schwarzer Galle“ rührt. Da sind die Chirurgen am Ende des 19. Jahrhunderts, die darum eifern, ihre Patienten durch immer radikalere Operationen zu verstümmeln. Weil sie glauben, den Krebs aus dem Fleisch schneiden zu können, wenn sie es nur gründlich tun.Und da sind die Ärzte unserer Zeit, die die Krankheit mit den Mitteln der modernen Genetik und Pharmakologie zu besiegen versuchen. Es ist der einzige schwache Teil des Buches: Bisweilen müht sich Mukherjee zu detailliert, seinen Lesern die fachlichen Zusammenhänge zwischen Proto-Onkogenen, Viren und Tumorentstehung zu vermitteln. Zu deutlich verrät sich Mukherjee hier als Arzt, der selbst forscht und die kritische Distanz verliert."Omnis cellula e cellulaDenn bei allen begrenzten Erfolgen, die in der Krebsmedizin inzwischen erkennbar sind: Die Onkologie ist auch heute nicht vor Hybris gefeit. Sie stößt auf vielen Feldern an Grenzen, für deren Überwindung es wieder neuer Ideen bedürfte. Dazu jedoch hält Mukherjee sich bedeckt, anders, als wenn er etwa das Ringen um Aufmerksamkeit, Geld und politischen Einfluss beschreibt. Es ist untrennbar mit Persönlichkeiten wie dem Forscher Sidney Farber und der Philanthropin Mary Lasker verbunden. Und es illustriert eine nicht nur für Krebs gültige Tatsache: Dass es selbst bei einer so tödlichen Krankheit ganz wesentlich um die Verkaufe geht. Mitunter so sehr, dass der Kampf gegen Krebs zum Kampf um des Kampfes willen wird. Das Leid der Betroffenen gerät dabei oft in den Hintergrund.Mukherjees Buch aber handelt auch von Schicksalen. Da ist die 30-jährige Carla, Mutter von drei Kindern und eine seiner ersten Patientinnen. Carla erkrankt an akuter lymphoblastischer Leukämie (ALL), dem Krebs der unreifen, weißen Blutzellen. Ihre Geschichte bildet den losen Rahmen des Buches. Da ist eine Frau, die vor 1.000 Jahren in der salzigen Trockenheit der peruanischen Wüste mumifizierte. Der Krebs war im Knochen ihres Arms gewachsen, ließ ihn bersten. Unvorstellbar, welche Qual diese Frau gelitten hat. Ohne zu ahnen, was sich hinter ihrem Schmerz verbirgt.Mukherjee nennt den Krebs ein „entstelltes Abbild unseres normalen Selbst“. Es ist ein Zitat des Nobelpreisträger Harold Varmus und trifft einen sehr wichtigen Kern der ganzen Geschichte: Die Wurzel von Krebs liegt in dem, was Rudolf Virchow als Fundament komplexen Lebens erkannte. Omnis cellula e cellula, alle Zellen gehen aus Zellen hervor. Lebewesen wie der Mensch entstehen, weil sich ihre Zellen im Rahmen eines genauen Plans teilen, spezialisieren, organisieren."Den Krebs" gibt es nichtEs sind heute viele Defekte bekannt, die diesen Plan durchkreuzen, die Missbildungen und Fehlfunktionen zeitigen. Aber nur der Krebs entzieht sich dem geplanten Gefüge derart, dass sich seine Zellen weiter und weiter teilen. Und nur bei Krebs kann das jederzeit und in jedem Gewebe passieren. Deshalb gibt es auch nicht den einen Krebs, sondern hundert verschiedene Arten.Immer aber ist Krebs ein Teil des physischen Selbst, der über dieses Selbst hinauswächst, es überholt – sein „König“ wird. Krebs als etwas zu betrachten, das „wie ein Mensch“ ist, liegt mithin sehr nahe. Doch wahr ist das Gegenteil: Dem Krebs kommt alles Menschliche abhanden.Beeindruckend ist die Fähigkeit Siddhartha Mukherjees, noch die verborgensten historischen Parallelen und Analogien herauszuarbeiten und zugleich ein großes Stück Literatur vorzulegen. Wer es ganz erfassen will, kommt aber an der Originalausgabe (The Emperor of all Maladies, Simon Schuster 2010) nicht vorbei. Die Präzision und umwerfende Eleganz, mit der ein in Indien geborener Arzt diese Geschichte auf Englisch erzählt, vermisst man in der deutschen Übersetzung. Das Lesen wird da oft zur Mühsal.Was schade ist, aber nicht heißt, dass die Mühe keine lohnenswerte wäre. Sie lohnt sich, weil das Buch zwar kaum Hoffnung macht, den König aller Krankheiten von seinem Thron zu stoßen. Aber es nimmt auf sehr subtile Weise die Berührungsangst vor einem Leiden, über das noch immer viel zu wenig gesprochen wird.
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