Im Gespräch Viele fürchten sich vor mehr direkter Demokratie und wollen die Bürger auf ihre Rolle als Wähler reduzieren. Ein Fehler, sagt der Politikwissenschaftler Carsten Herzberg
Der Freitag: Herr Herzberg, Bürgerhaushalte erleben in Deutschland derzeit einen Boom. Was können Bürger denn, was gewählte Abgeordnete nicht können?
Carsten Herzberg:
Sie kennen ihr Lebensumfeld, ihren Stadtteil besser als die meisten der gewählten Vertreter. Und sie können Wissen aus ihrem Beruf einbringen. Dadurch kommen neue Argumente und Blickwinkel in die Diskussion – ein klarer Vorteil gegenüber Stadtparlamenten, in denen der Austausch reglementiert ist und Vorschläge oft abgelehnt werden, nur weil sie von einer bestimmten Fraktion stammen.
Mit Bürgerhaushalten wollen Politiker dieses Potenzial nutzen. Wie machen sie das?
Man ist noch auf der Suche. Und das Ergebnis ist, dass es den „einen“ Bürgerhaushalt nicht g
ieses Potenzial nutzen. Wie machen sie das?Man ist noch auf der Suche. Und das Ergebnis ist, dass es den „einen“ Bürgerhaushalt nicht gibt. Wir haben zwei Strömungen. Die eine würde ich als „Beratung beim Sparen“ bezeichnen, die andere nutzt Bürgervorschläge, um Dienstleistungen und Infrastruktur zu verbessern. Beide Richtungen haben noch ihre Probleme. Die können allerdings gelöst werden, wenn der Wille zu einer wirkungsvollen Partizipation bei allen Beteiligten tatsächlich da ist.Was muss denn ganz konkret stimmen, damit ein Bürgerhaushalt funktioniert?Wenn für Bürger spürbar ist, dass ihre Vorschläge berücksichtigt werden und sich auf ihren Alltag auswirken, dann werden sie sich weiter engagieren. Dann werden sich auch noch mehr Leute diesem Prozess anschließen. Wichtig dafür ist, dass ein Budget bereit gestellt wird. Das ist die Hürde, die die deutschen Bürgerhaushalte nehmen müssen, damit sie nicht in der Belanglosigkeit verschwinden. Ist es nicht unlogisch, dass die Bürger an den großen Entscheidungen, wenn es um richtig viel Geld geht, meist nicht beteiligt werden?Man wird freilich enttäuscht, wenn man zu große Erwartungen an den Bürgerhaushalt stellt. Es geht oft gar nicht um den finanziellen Aspekt, sondern um die Verbesserung von Dienstleistungen. Bei den umgesetzten Projekten handelt es sich oft um kleine Maßnahmen. Für die großen Fragen sind andere Beteiligungsverfahren wie Bürgerentscheide wirkungsvoller. Die haben allerdings auch ihre Grenzen, weil es schwierig ist, auf Anhieb genügend Menschen zu mobilisieren. Es gibt also Argumente, auch große Projekte in Bürgerhaushalte einzubeziehen – und sie dann auch verbindlich zur Disposition zu stellen.Bei vielen Bürgerhaushalten fragt man sich, ob nicht am Ende der bessere Austausch zwischen Bürgern und Politikern und nicht die Haushaltspolitik die Hauptrolle spielt. Das kann man so sehen. Es gibt eine Verdrossenheit gegenüber großen Parteien. Bei Politikern jeder Couleur besteht deshalb der Wunsch nach einer engeren Zusammenarbeit mit der Bürgerschaft. Die Bürgerhaushalte sind Ausdruck davon. Und aus einem engeren Kontakt können tatsächlich gute Ideen entstehen. Voraussetzung ist, dass die Mandatsträger tatsächlich einen Teil ihrer Macht abgeben – und das fällt vielen noch schwer.Sind Bürgerhaushalte ein Schlüssel zu mehr direkter Demokratie?Darum geht es nicht. Bürgerhaushalte können eine Alternative zwischen unverbindlicher Konsultation der Bürger und direkter Demokratie sein. Formaljuristisch gesehen hat das Stadtparlament immer das letzte Wort. Allerdings kann mit den Vorschlägen der Bürger verbindlich umgegangen werden, so dass man de facto von einer Übertragung von Entscheidungskomptenz sprechen kann. Es geht aber nie um das ganze Budget, sondern stets um einen abgesteckten Bereich. Und den bestimmt das Stadtparlament. Besteht nicht die Gefahr, dass immer nur die gleichen „Berufsbürger“ mitmachen, die sich sowieso schon engagieren?Darin sehe ich keine Gefahr. Vielmehr kann Engagement eine Quelle für Legitimation sein. Sie haben aber insofern Recht, dass es dem Bürgerhaushalt besser gelingen muss, auch Leute zu gewinnen, die sich sonst nicht beteiligen. Erste erfolgreiche Beispiele dafür gibt es bereits.Nun sind ja Volksvertreter gerade dazu gewählt, im Namen aller Bürger zu entscheiden. Gibt es nicht ein Legitimationsproblem und auch ein rechtliches Problem, wenn eine beliebige Teilgruppe von Bürgern plötzlich so viel Macht hat?Ich glaube, dass alle Seiten davon profitieren, wenn man zunächst klar stellt, wie viel Macht die Bürger haben sollen. Die Kommunen haben ein Finanzproblem. Oft ist kein Geld da, um Bürgervorschläge umzusetzen. Um am Ende einem Glaubwürdigkeitsdilemma zu entgehen, sollte im Vorhinein ein „Sockelbetrag“ zur Verfügung gestellt werden. Wenn das Parlament von den Vorschlägen überzeugt ist, kann es diesen Betrag ja weiter aufstocken. Dass es da rechtliche Probleme geben soll, halte ich eher für ein politisches Argument. Welche Rolle kann das Internet bei Bürgerhaushalten spielen? Natürlich ist das Internet ein wichtiges Kommunikationsmedium. Ich plädiere aber für eine Verbindung von Bürgerversammlungen, Internet und anderen Formen. Kommunen, die nur aufs Internet setzen, laufen Gefahr, dass die Diskussionen verpuffen. Bei Veranstaltungen, bei denen sich Bürger begegnen, sich kennenlernen und sich zu Initiativen zusammenschließen können, entsteht eine ganz andere Dynamik als im Netz.Gibt es Erkenntnisse darüber, welche Wirkungen Bürgerhaushalte langfristig haben? Man muss drei Grade unterscheiden. In Lateinamerika sind manche Bürgerhaushalte Teil eines gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesses, bei dem es um einen Bruch mit bisherigen Praktiken geht, um Demokratie und darum, sozialer Gerechtigkeit den Weg zu ebnen. In Europa und auch in Deutschland kann man Bürgerhaushalte unterscheiden, die eingeleitete Reformen begleiten und andere, die nur symbolische Politik sind. Solche Show-Bürgerhaushalte, die Partizipation nur vorgaukeln, können dem Verfahren die Glaubwürdigkeit rauben. Offensichtlich sind Politiker in anderen Ländern bereit, mehr Verantwortung abzugeben. Haben die Politiker in Deutschland einfach mehr Angst vor ihren Bürgern? Ich denke, dass hier die direkte Demokratie ein „Schreckgespenst“ ist. Gerade deswegen wurden in der Vergangenheit nur relativ wenige Bürgerhaushalte in Deutschland umgesetzt. Ich befürchte, dass vielen Politikern noch nicht klar ist, dass es zwischen unverbindlicher Konsultation und direktdemokratischer Selbstverwaltung eine ganze Palette von Möglichkeiten gibt. Zum Beispiel könnten zeitlich oft überlastete Politiker durch eine begrenzte Übertragung von Entscheidungskompetenzen wieder mehr Handlungsfreiheit für die Gestaltung von Politik bekommen. Das wäre nicht – wie einige befürchten – das Ende der repräsentativen Demokratie, sondern ihre zeitgemäße Weiterentwicklung.
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