Wenn eine Illusion überhaupt nicht mehr zu retten ist, wird der Blick auf die nackte Wirklichkeit umso heftiger kommentiert, je weniger man bereit ist anzuerkennen, dass man einer Illusion angehangen hatte. Der Fall Edathy, der eine Meldung der kanadischen Polizei an das Bundeskriminalamt zum Auslöser hatte, beendet den Irrglauben, in Deutschland bliebe etwas vor der Öffentlichkeit verborgen, was rechtsstaatlich der Obhut der Behörden oder der Ministerien anvertraut war. Es ist überhaupt die Frage, wie viele Akteure oder Beobachter des öffentlichen Lebens – von der Kommunalpolitik bis zur Bundespolitik – diesem Irrglauben verfallen waren. Dass der SPD-Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Thomas Oppermann, offenbar nichts dabei fand, den BKA
BKA-Chef Jörg Ziercke anzurufen, um sich mit ihm über das auszutauschen, was Sigmar Gabriel zuvor rechtswidrig von Innenminister Hans-Peter Friedrich erfahren hatte, zeigt, dass ihm, dem vormaligen Richter und Landesminister, das Prinzip der Amtsverschwiegenheit fremd oder zumindest nicht so wichtig war. „Gehorsam“, sagte schon der ältere Moltke, „ist ein Prinzip. Aber der Mann steht über dem Prinzip.“Das tun längst viele Männer. Entscheidend dafür, ob sie damit Erfolg haben, ist, ob sie zusammenstehen. Und wie lange. Da ist jetzt so etwas wie Ganovenehre in der Niedersachsen-Combo gefragt. Der SPD-Vorsitzende Gabriel, der Bundesaußenminister Steinmeier, Thomas Oppermann, der kanadischen Polizisten aufgefallene SPD-Politiker Sebastian Edathy, sie alle kennen sich vermutlich schon lange aus gemeinsamer Parteiarbeit auf dem flachen Land zwischen Pattensen und Peine. Das mögen die Tage zwischen den Landesvätern Schröder, Glogowski und Gabriel gewesen sein, in denen sie zusammenfanden. Kaum immer in harmonischer Stimmung. Glogowski musste wegen einer – im Vergleich mit Heutigem – albernen Lappalie zurücktreten, und so konnte Gabriel Ministerpräsident in Hannover werden. Als er abgewählt wurde, mussten sich die Männer auf Berlin konzentrieren. Seit bald einem Jahr haben sie aber auch wieder Genossen in den niedersächsischen Ministerien und in der Staatskanzlei. Da kann dann zwar immer etwas herauskommen, was besser nicht herauskäme. Aber es muss nicht herauskommen, warum etwas herausgekommen ist.Offene GeheimnissePolitiker können sich darauf verlassen, dass Fehltritte aus dem Genre Indiskretion nicht immer oder längst nicht mehr nur von Politikern begangen werden, auch wenn niedrige Chargen aus den kleineren Büroräumen der Macht nicht mit einem so hübschen Wort wie dem von „Indiscretion“ (Herbert Wehner) bedacht werden. Dass Politiker überhaupt dem vertraulich gesprochenen Wort vertrauen, wie es jetzt im Fall Edathy gewesen zu sein scheint, ist höchst ungewöhnlich. In manchem Gespräch zwischen Politikern und Journalisten gib es die Formel „Das sage ich Ihnen jetzt unter drei“. Gemeint ist damit, ich tue so, als wären wir beide in diesem Gespräch miteinander allein – obgleich noch einige Kollegen dabei sind und mithören –, aber ich sage es Ihnen als etwas, das ich jederzeit dementieren kann, weil: „Unter drei“ bedeutet „Aussage steht gegen Aussage“. Das ist natürlich nur ein Spiel und Leute, die über Jahre aufeinander angewiesen sind, wissen, wie sie dieses Spiel zu spielen haben. Die Grundregel lautet: Was drei oder mehr Personen wissen, wissen alle.Nur: Was alle wissen, die am Informationsfluss sitzen und angeln, kommt nicht automatisch in die Öffentlichkeit. Als der frühere Finanzminister Theo Weigel im Kampf um die Macht in der CSU in Konkurrenz zu Edmund Stoiber geriet, wurde von dessen Parteifreunden Münchner Journalisten eifrig gesteckt, dass es im Privatleben Weigels nicht so aussehe, wie es sich für einen christlichen Politiker gehöre. Die angesprochenen Journalisten gaben sich ungläubig. Die Indiscretionen konnten es nicht fassen: Das sollten die brillant recherchierenden Schreiberlinge sein? Dabei hatten die Redaktionen längst sorgfältig formulierte Geschichten über Weigel in den Schubladen liegen, um vorbereitet zu sein, wenn die Konkurrenz das Schweigen bricht. Das geschah aber nicht. Schließlich lud Weigel etliche Journalisten zu sich nach Hause ein und sprach mit ihnen über das, was sie alle wussten und nun in angemessener Form an die Öffentlichkeit brachten.Kein Polizeireporter, der etwas taugt, bleibt lange in Unkenntnis dessen, was Polizeibeamte ernsthaft und über einen längeren Zeitraum beschäftigt. Kein Gerichtsreporter, der über längere Zeit seine Arbeit tut, wird von einer Anklageerhebung oder dem Inhalt einer Anklageschrift im Stadium ihrer Entstehung überrascht. Was einer davon herauslässt, ist eine Sache der Abwägung. Man will mit den Beamten weiter zusammenarbeiten, sie also nicht gefährden oder sie als Informanten bloßstellen. Umgekehrt kann es auch für Beamte – kleine und große – nützlich sein, eine gute Presse zu haben. Öffentlichkeitsarbeit ist auch eine Aufgabe von Polizei und Justiz. Aber kein Journalist beschränkt sich auf die Zusammenarbeit mit der Pressestelle.Uli Hoeneß hat es erfahren, dass Finanzbeamte verschwiegener sind als Polizeibeamte. Erst als seine Selbstanzeige als unzureichend bewertet wurde und die Sache an die Staatsanwaltschaft ging, diese die Polizei einschaltete, war man im löchrigen Gelände angelangt. Wenn dann aber gar eine Hausdurchsuchung stattfindet, ist der „Fall“ in der Öffentlichkeit. Das galt nun für Edathy nicht anders als für Zumwinkel und Hoeneß. Ob freilich das niedersächsische Lokalblatt ein Foto von der Durchsuchung eines Zimmers – vermutlich durchs Fenster gemacht – abdrucken musste, sollte abschlägig beantwortet werden. Auch vom Ablauf der Hausdurchsuchung bei Hoeneß am Tegernsee wurde einiges unter Journalisten bekannt, was den Weg nicht in die Öffentlichkeit fand. Hier dachten wohl die Münchner Zeitungen, es sei nicht gut, den Zorn der Bayern-Fans über das schon erreichte Maß anzuheizen. Darauf angesprochen konnten sie immer sagen: Das sind Gerüchte, es ist schwer, dafür Bestätigung zu finden. Nur manchmal sagt man es, und manchmal ist es so.Geht man im Fall Edathy zurück von der Hausdurchsuchung zu den Anfängen, dann fällt am Schwerwiegendsten auf, dass der möglicherweise Beschuldigte einen Tag nachdem die hannoversche Staatsanwaltschaft in einem als vertraulich gekennzeichneten Schreiben an den Bundestagspräsidenten die Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Edathy gefordert hatte, sein Bundestagsmandat niederlegte. Das war gewiss kein Zufall. Edathy ist wohl gewarnt worden. Ob aus Hannover oder Berlin, wird man kaum herausfinden. In Berlin war der Briefumschlag unbefugt geöffnet worden. Das muss nicht viel bedeuten.Rechtsverstoß ohne FolgenSebastian Edathy hatte schon viele Wochen zuvor durch einen Anwalt sondieren lassen, ob gegen ihn ermittelt werden könnte. Diese Sorge muss nicht das Ergebnis eines Hinweises von politischen Freunden gewesen sein. Der Abgeordnete wusste, was die kanadische Polizei ans Licht gefördert hatte, ihm war – als versiertem Innenpolitiker – klar, dass er als Kunde der inkriminierten Firma nach Deutschland gemeldet werden würde. Da galt es, auf dem Laufenden zu sein. Sollte es Durchstecherei vom BKA oder einem der Landeskriminalämter gegeben haben, wäre kaum zu erklären, weshalb sie entweder so spät kam oder so geringe Reaktionen Edathys zur Folge hatte. Denn: Strafrechtlich relevant oder nicht, dem Abgeordneten wird klar gewesen, dass seine politische Karriere und sein bürgerliches Ansehen mit dem Bekanntwerden dieser Geschäftsbeziehung ruiniert sein würden.Ungeklärt bleibt die Information des Göttinger Polizeipräsidenten: Warum erfuhr er etwas, was gab er an seinen Innenminister weiter? Das klingt nach Niedersachsen-Combo. Damit könnte einer der drei Berliner Spitzenpolitiker von der SPD etwas zu tun gehabt haben. Wissen kann man das einstweilen nicht. Ein Motiv dafür ist nicht zu erkennen. Allerdings sollte man das Ausmaß von Geschwätzigkeit unter Politikern aus einer Region und einer Partei nicht unterschätzen. Es ist eine Art geselliger Wichtigtuerei.Den früheren Innenminister Friedrich hat es erwischt, weil er aus vorauseilender Kumpelgesinnung mit der SPD etwas getan hat, was er rechtlich nicht hätte tun dürfen. Dennoch bleibt die Frage, warum es ihn erwischt hat. Als vor Jahrzehnten der damalige Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel, ein Einser-Jurist aus Bayern, eine Journalistenrunde bei sich versammelte, um sie vor Eröffnung der Hauptverhandlung über den Inhalt der Anklageschrift gegen den Hamburger Rechtsanwalt Kurt Groenewold zu unterrichten, und zwar so detailliert und präzise, dass daraus mit „Gänsefüßchen“ zitiert wurde, war das auch ein krasser Rechtsverstoß. Niemand forderte seinen Rücktritt. Er wurde hernach noch Kanzlerkandidat seiner Partei, dann ihr Vorsitzender und ist bis heute Ehrenvorsitzender der SPD.
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