Nahostkonflikt Der Soldat Gilad Shalit wird seit mehr als drei Jahren von der Hamas festgehalten. Er schwebt in Lebensgefahr, solange ihn die israelische Armee befreien will
Am 15. Oktober 2009 ist der Tag 1.208 der Gefangenschaft des Gilad Shalit. Ein verwundeter Soldat soll nicht auf dem Schlachtfeld und ein kriegsgefangener nicht in Gefangenschaft gelassen werden. Weil das so sein soll, schließt der israelische Staat einen ungeschriebenen Vertrag mit jedem, der sich der Armee anschließt. Besonders mit jedem, der in einer Kampfeinheit dient wie Shalit. Doch wie sich unsere Regierung ihm gegenüber verhält, kommt einer Verletzung dieses Vertrages gleich – besser gesagt: einem Vertrauensbruch.
Der Verrat beginnt schon in der Terminologie. Ein Soldat, der bei einer Militäroperation gefangen genommen wird, ist ein Kriegsgefangener – in jeder Sprache, in jedem Land. Gilad Shalit geriet bei einer solchen Aktion in Gefangenschaft
genschaft als bewaffneter Soldat in Uniform. Dabei ist es egal, ob diese Aktion selbst legal oder illegal war und ob jene, die ihn gefangen nahmen, reguläre Soldaten oder Guerillas waren – Shalit ist ein Kriegsgefangener.Geleugnet wurde dies vom ersten Augenblick an. Unsere Regierung bestand darauf, dass es eine „Entführung“ war. Die disziplinierten israelischen Medien, die hinter den Generälen im Stechschritt marschieren wie ein preußischer Wachaufzug, haben sich diesem Chor angeschlossen. Fast ohne Ausnahme sprechen alle stets nur vom „entführten“ Soldaten. Die Wörter sind wichtig, weil alle Armeen Kriegsgefangene austauschen, nach Ende der Feindseligkeiten, manchmal noch im Verlauf derselben. Man entlässt die Kämpfer des Feindes für die Entlassung der eigenen Gefangenen. Doch in dem Moment, da Gilad zum „Entführten“ erklärt wurde, war er zu dem verurteilt, was folgte. Er verlor seine Ehre als Soldat – ein Soldat wird nicht „entführt“.Entebbe und MünchenDie größte Gefahr, die seither über Gilads Kopf schwebt, geht nicht von Hamas, sondern der eigenen Armee aus. Es war stets klar, dass sie versuchen würde, ihn mit Gewalt zu befreien. Das ist tief in ihrem Grundethos verwurzelt: den „Entführern“ nie nachzugeben. Wenn ich Gilads Vater und ein frommer Mann wäre, würde ich täglich beten „Lieber Gott, lass die Armee nicht den Platz finden, wo er festgehalten wird“, denn unsere Generäle sind bereit, Gefangene großen Risiken auszusetzen, statt sie auszutauschen.Eine in dieser Hinsicht bezeichnende Operationen fand im Juli 1976 in Entebbe statt. Befreit wurden 98 Passagiere einer entführten Air-France-Maschine, die gezwungen war, in Uganda zu landen. Die Operation wurde weltweit bewundert. Nur einer der Befreier verlor sein Leben – der Bruder von Benjamin Netanjahu. Beim darauf folgenden Erfolgsrausch wurde eine Tatsache übersehen: das Risiko der Operation. Wäre sie nur in einem Detail schief gegangen, hätte es für die entführten Passagiere eine Katastrophe gegeben.Die Operation bei den Münchner Olympischen Spielen 1972 war ganz anders. Als die deutsche Polizei, ermutigt von der Regierung Golda Meir, die Geiseln mit Gewalt befreien wollte, verloren alle israelischen Athleten ihr Leben, die meisten wahrscheinlich durch Kugeln deutscher Polizisten. Wie sonst ist der Umstand zu erklären, dass sich die Regierungen Israels und Deutschlands bis zum heutigen Tag weigern, die Obduktionsergebnisse zu veröffentlichen?Man erfuhr kürzlich, ein ranghoher israelischer Offizier habe seine Soldaten aufgefordert, lieber Selbstmord zu begehen, als sich gefangen nehmen zu lassen. Es kann also gut sein, dass einer der Gründe für die Leidenszeit von Gilad Shalit in der Hoffnung der Armee liegt, sein Versteck zu orten und ihn mit Gewalt zu befreien. Es ist kein Geheimnis, dass der Gazastreifen voller Informanten ist. Die „gezielten Tötungen“ bei der Operation Geschmolzenes Blei vom Januar wären ohne ein Netzwerk von Kollaborateuren unmöglich gewesen.Keine BriefeEs grenzt an ein Wunder, dass diese Hoffnung bisher nicht erfüllt wurde. Offenbar gelang es Shalits Wärtern, das Geheimnis streng zu bewahren. Seine Bewacher weigern sich hartnäckig, Besuche des Roten Kreuzes zu erlauben oder Shalits Briefe zu befördern, dies mag sein Leben gerettet haben. Es ist wahrscheinlich, dass das Anfang des Monats übergebene Video sorgfältig präpariert war, um jede Identifizierung des Ortes zu verhindern, an dem Shalit festgehalten wird.Die Reaktion auf dieses Lebenszeichen ließ die absolute Überlegenheit der israelischen Propagandamaschine erkennen. Die Weltmedien übernahmen fast ohne Ausnahme die vorgegebene Terminologie und sprachen vom „Entführten“, nicht vom Kriegsgefangenen. Von daher kann die Shalit-Affäre als Metapher für den gesamten Konflikt gesehen werden. Belastete Begriffe diktieren das Verhalten, verschiedene, sich widersprechenden Narrative verhindern ein Verständnis zwischen den Parteien, selbst wenn es um kleine Dinge geht. Dennoch gibt es keine Alternative, als die Verhandlungen über Shalit zu beschleunigen, damit er überlebt. Bis dahin sollte es eine unmissverständliche Zusage der Unterhändler geben: Es wird nicht versucht, ihn mit Gewalt zu befreien, sondern mit Hamas auszuhandeln, wie der 23-Jährige nach Hause zurückkehren kann.
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