Noch vor kurzem war er everybody's darling. Jetzt wird Wladimir Putin von aller Welt gescholten: Ein Zynismus sondergleichen, sich am Schwarzen Meer zu sonnen, während russische Matrosen und Offiziere in der eisigen Barentssee umkommen. Eine Schande, westliche Hilfe erst so spät anzunehmen. Ist es doch für Amerikaner oder Briten im umgekehrten Fall längst die selbstverständlichste Sache der Welt, einer russischen Crew den Vortritt zu lassen. Der Gipfel der medialen Heuchelei wird erreicht, wenn wieder einmal mit omnipotenter Selbstherrlichkeit das »marode russische Militärgerät« beschworen wird - als ob die US-Navy noch nie Atom-U-Boote verloren hätte. Sie hat: 1963 die Tresher mit 129 Mann und 1968 die Scorpion, bei deren Untergang 99 Seel
gang 99 Seeleute starben.Bei allem Respekt vor den Betroffenen: die Kursk war kein Fischerboot, sondern ein hochmodernes Waffensystem. Es befand sich in der Barentssee zur Teilnahme an einem Manöver. Die Havarie der Kursk ist deshalb nicht nur ein »rein menschliches« Problem, sondern - solange derartige Potenziale deshalb existieren, um im Kriegsfall eingesetzt zu werden - auch eines der »nationalen Sicherheit«.Wer immer die havarierte Kursk in den Griff bekommen will, muss die Konstruktion des Bootes bis ins kleinste Detail kennen. Die Kursk ist ein lenkraketenbestückter U-Kreuzer der Antej-II/Oscar-II-Klasse. Sie gehört damit zu jener Kategorie von Booten, über die der Westen nur sehr unzureichend Bescheid weiß. Es liegt im ureigensten Interesse Moskaus, dass sich dies auf absehbare Zeit nicht ändert, denn seit spätestens Anfang der neunziger Jahre hat die US-Marine die Küstengewässer dieser Welt als Hauptaktionsfeld ihrer Aktivitäten im 21. Jahrhundert entdeckt. Für die Navy gehört der Große Seekrieg der Vergangenheit an. Künftig - so die Philosophie - gehe es eher darum, »Schurkenstaaten« durch präzise Schläge aus küstennahen Gewässern heraus zu zügeln. Dies bedinge die totale Kontrolle dieser Gewässer zum frühestmöglichen Zeitpunkt.Das laufende Beschaffungsprogramm für die US-Marine lässt keinen Zweifel - derartige Überlegungen sind alles andere als akademischer Natur: Das Repertoire reicht vom Aufbau einer Flotte »küstentauglicher« Jagd-U-Boote der Virginia-Klasse über einen völlig neuen Zerstörertyp (DD-21) zur Führung von Präzisionsschlägen gegen Landziele bis zur grundlegenden Modernisierung des Raketenabwehrsystems Aegis.Was die Freude der Amerikaner an ihrem neuen High-Tech-Arsenal einigermaßen mindert, ist Russlands Universalraketenkomplex Granit/Shipwreck: Mit einer Reichweite von zirka 500 Kilometern und einer Geschwindigkeit weit jenseits der Schallmauer sind diese Raketen die derzeit einzig wirkliche Gefahr für US-Flugzeugträger und die sie begleitenden Kampfverbände. Und niemand kann mit Sicherheit sagen, ob künftige US-Systeme wie die Virginia-Boote oder der DD-21-Zerstörer gegen Russlands Granit wirklich immun sein werden.Zwölf dieser Raketenkomplexe befinden sich an Bord der Kusnezow, Russlands einzigem Flugzeugträger. Dazu kommen je 20 auf der Marschall Ustinow und der Warjag, den letzten beiden seefähigen schweren Kreuzern der Marine. Das entscheidende Trägermittel des Granit-Komplexes sind jedoch die Antej-II/Oscar-II-Boote: Bestückt mit jeweils 24 derartigen Raketenkomplexen stellen die (bislang) elf Boote dieser Klasse die derzeit vielleicht effektivste Seekriegswaffe Russlands dar. Es ist nachvollziehbar, dass es der Kreml verhindern wollte, Fremde in deren Nähe zu lassen.Auch Putins Weigerung, persönlich in Murmansk vorstellig zu werden, ist so unverständlich nicht. Natürlich kann man sich darüber mokieren, dass der Oberbefehlshaber der Streitkräfte bei einer solchen Katastrophe Abstand hält - noch dazu, wenn jene Waffengattung betroffen ist, die ihm angeblich ganz besonders am Herzen liegt. Trotzdem, sein Verhalten ist begründet.Dass Putin als Vertreter der Petersburger Nomenklatura ein besondere Affinität zur Marine hat, ist bekannt: Sein erster Besuch als gerade gewählter Nachfolger Jelzins bei den Streitkräften galt der Nordmeer-Flotte: Fast einen ganzen Tag lang war er damals auf einem strategischen Atom-U-Boot in der Barentssee unterwegs. Und als Flottenadmiral Wladimir Kurojedow unlängst seine Dissertation zum Thema »Russlands neue Seekriegsstrategie« verteidigte, geschah dies in Gegenwart des Präsidenten.Gleichwohl kam für Putin die Havarie der Kursk zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Die von ihm Anfang des Jahres autorisierte »Nationale Sicherheitsdoktrin« enthielt zwei Elemente, die für die Marine von größter Bedeutung waren: die Wiederentdeckung der Kernwaffen als zentrale Abschreckungskomponente sowie die Forderung nach intensiver Vorbereitung auf mögliche Gefahren des 21. Jahrhunderts. Davon inspiriert forderte ein im März ebenfalls von Putin abgesegnetes Dokument mit dem Titel »Grundlagen der russischen Seekriegspolitik bis 2010«: Priorität der Marine müsse der Ausbau der seegestützten strategischen Nuklearstreitkräfte sein. Eine logische Forderung, nachdem Putin Co. dem politischen Establishment in Moskau solange zugesetzt hatten, bis es sich der Ratifizierung des START-2-Vertrages und damit der Zerstörung aller landgestützten Interkontinentalraketen Russlands vom Typ SS-18/19/Satan nicht länger widersetzte. Konsequenz: Ab 2003 werden 60 Prozent statt bisher 43 Prozent aller russischen Interkontinentalraketen auf strategischen Atom-U-Booten platziert sein.Als entscheidende Bedrohung eigener Interessen im 21. Jahrhundert nennt des März-Dokument die zunehmende Verdrängung Russlands von den Weltmeeren und den Ausbau der maritimen Kapazitäten bei ausländischen Mächten. Herausforderungen, denen man durch eine zügig erneuerte U-Boot-Flotte sowie den Bau schwerer Kreuzer und Flugzeugträger begegnen will.Allerdings: Eine wohlklingende Strategie zu formulieren ist das eine - etwas völlig anderes, entsprechende technologische Weichenstellungen vorzunehmen, wenn es dazu an den nötigen Finanzen fehlt. Seit Monaten erörtert Putin hinter verschlossenen Türen mit dem Flottenkommando und dem Militärisch-Industriellen Komplex (MIK) realistische Beschaffungsprogramme für die Kriegsmarine. Bisher ohne Ergebnis. Was nicht verwundert: Von welcher größeren Rolle der strategischen U-Boote im Konzert der strategischen Nuklearstreitkräfte kann die Rede sein, wenn das Herzstück dieser Flotte - die sieben Boote der Akula/Typhoon-Klasse - nicht, wie vor zwei Jahren vorgesehen, modernisiert wird, weil das Geld fehlt? Wenn die nächste U-Boot-Generation vom Typ Borej frühestens 2010 durch die Weltmeere gleitet ? Eine höchst desolate Lage für Russlands Oberkommandierenden, die durch den anhaltenden Streit zwischen Verteidigungsminister Sergejew und Generalstabschef Kwaschnin (s. Freitag 33/2000) zusätzlich verkompliziert wird.Hätte der Präsident angesichts derart unübersichtlicher Verhältnisse aktiv ins unmittelbare Krisenmanagement um die Kursk eingreifen wollen, es wäre politisch höchst unklug gewesen: Er musste mit Fragen rechnen, auf die man zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Antwort geben darf, sollen die laufenden Gespräche mit den Flottenkommandeuren und den Managern der Rüstungsindustrie nicht gefährdet werden. Putin weiß außerdem: Von einem Volk, das mehrheitlich einen politischen Nobody gewählt hat, der noch dazu von einem extrem desavouierten Vorgänger protegiert wurde, droht keine ernste Gefahr - ein solches Volk ist hochgradig manipulierbar. Viel komplizierter ist es, die Militärs bei Laune zu halten: Wie kann ich den Streitkräften ein nationales Sicherheitskonzept schmackhaft machen, das aus Sicht vieler führender Militärs jeglicher materieller Grundlage entbehrt? Fragen wie diese sind es, die Russlands Präsidenten derzeit mehr als alles andere umtreiben dürften.