Nach jahrelangen Querelen sieht es so aus, dass endlich auch die Sinti und Roma ein Denkmal für die 500 000 von den Nazis erschlagenen und vergasten Opfer ihres Volkes erhalten werden. In einem Appell des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, der dieser Tage von zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, von Politikern und Künstlern, unter ihnen Simon Wiesenthal, Paul Spiegel, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Beate und Serge Klarsfeld, die Gewerkschafter Dieter Schulte, Klaus Zwickel und Detlef Hensche, die Schriftsteller Günter Grass, Johannes Mario Simmel und Siegfried Lenz, wird unterstrichen, dass es im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus keine Hierarchisierung geben darf. Die Unterzeichner des Appells bitten, den
Mosaik der Sinti-Melancholie
BERLINER SINTI Drei Enkel von "Seemann", dem Überlebenden einer Großfamilie, erzählen
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, den in Paris lebenden israelischen Künstler Dani Karavan mit einem Entwurf für das Mahnmal an den Holocaust der Sinti und Roma zu beauftragen. Gleichzeitig setzen sie sich dafür ein, beide Holocaust-Denkmale in Berlin, das für die Juden und das für die Sinti und Roma gleichzeitig zu eröffnen.Seemann", das war Kurt Ansin, ein Berliner Sinto, geboren 1921, gestorben 1983. Seine Enkel leben heute in Karlshorst, Hellersdorf, Neukölln und Lichtenberg. Seemann überlebte die Konzentrationslager des faschistischen deutschen Staates als einziger von acht Geschwistern. Nach seiner Befreiung aus Nordhausen/ Dora fand er in Marzahn, wo während der Nazi-Diktatur das Berliner "Zigeunersammellager" war, seine Mutter wieder. Eine alte Frau, verwirrt, gebrochen, immer nach ihren ermordeten Kindern suchend. Wieder eine große Familie zu gründen, war Seemanns Vermächtnis im Andenken an seine ermordeten Geschwister, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen.Kurz nach Kriegsende heiratete Seemann "Kaula", eine Sintizza aus dem Berliner Wedding. Sie lebt als literarische Figur in Alex Weddings Kinderbuch Ede und Unku weiter. Es erzählt von der Freundschaft des Berliner Arbeiterjungen Ede mit Unku, dem Mädchen aus dem Wohnwagen.Zwischen 1946 und 1960 gebar Kaula 10 Kinder. Zwei starben früh. Acht wuchsen auf in Berlin-Rummelsburg, damals Kiez zwischen Bahndamm, Mietskasernen, Kleingärten, Vorstadthöfen: Vier Mädchen und vier Jungen, die Mütter und Väter von Seemanns 21 Enkeln.Seemann liegt begraben auf einem Friedhof in Marzahn, der sich direkt neben dem Gelände des ehemaligen "Zigeuner-Sammellagers Marzahn" befindet.Seemanns EnkelSally (11), Laila (18) und Janko (21), drei von den 21 Enkeln des Seemanns, verlebten ihre Kindheit in der DDR der achtziger Jahre oder wurden hinein geboren in das wiedervereinigte Deutschland und erzählen von sich.Sally besucht ein Gymnasium in Berlin-Neukölln und ist in ihrer Klasse eine der besten Schülerinnen.Laila hat eine eigene kleine Wohnung in einem sanierten Altbau gefunden, in Rummelsburg, genau in der Straße, wo zwei Häuser weiter Seemann und Kaula ihre Kinder groß gezogen haben. Zur Zeit schlägt sich Laila mit Gelegenheitsjobs durch. Im Sommer kellnert sie in Eiscafes oder verkauft auf Märkten. Im Winter arbeitet sie in der Serienproduktion von Stofftieren.Janko wohnt bei seiner Freundin in Neukölln. Er arbeitete eine zeitlang als Betreuer für Kinder. Jetzt will er seine musikalische Ausbildung als Gitarrensolist bei Ferenc Snetberger fortsetzen. Sein Ziel ist, als Berufsmusiker zu leben.Die drei Enkel erzählen über die Welt der Sinti in Berlin, ihre eigenen Wahrnehmungen und Zukunftswünsche:WeltwandererJanko Auf der ganzen Welt gibt es Zigeuner. Zwei Gruppen, Sinti und Roma. Sie sind im 14. Jahrhundert aus Indien ausgereist. Weshalb auch immer. Sind in Europa weiter gewandert. Nordwärts. Und sind dann irgendwann in Deutschland angekommen. - Ich würde sagen, meine Heimat ist Deutschland, weil ich hier geboren bin. Hier zur Schule gegangen bin. Die Sprache spreche.Sally Sintis, das ist eben wie Weltwanderer. Sintizza ist eine Zigeunerin. Unter Zigeuner versteht ja jeder gleich "Müllkramer" und so. Also ich selber bin eine Sintizza. Aber ich fühl mich eigentlich gar nicht so wohl, eine zu sein. Weil, in meiner Schule, da lästern alle über mich. Manchmal raste ich aus und weine. Zuerst habe ich immer gezögert, doch irgendwann hat es mir gereicht. Da hab ich dann doll zugeschlagen. Und seitdem respektieren sie mich. Aber ich sage das gar keinem mehr. Ich sage jetzt immer: Ich bin eine Deutsche.Laila Also im Prinzip fühle ich mich mehr als Sintizza, weniger als Deutsche. Obwohl ich genau in der Mitte lebe - so eigentlich im Niemandsland. Meine Mutter ist Deutsche, und mein Vater ist Sinto. Ich muss mit den Sitten klar kommen - von den Zigeunern, und mit den Deutschen muss ich klar kommen. Eigentlich versuche ich das ganz gut zu meistern, dass ich mich bei beiden Seiten anpassen kann. - Die Sprache fasziniert mich, die Musik, die Kultur. Das ist irgendwie geheimnisvoll. Und das macht mich glücklich. Ich sage: Ja, ich bin ein Zigeuner. Warum soll ich mich verstecken dafür?Im WohnwagenSally Sintis haben einen großen Wohnwagen, was man auf dem Campingplatz sieht: die man an das Auto ranhängen kann und so immer rum wandern kann. - Ich hab früher auf so einem Platz gewohnt. In einem sehr großen Wohnwagen mit zwei Zimmern und einer Tür mittendrin. Die meisten Sinti wohnen in einem Wohnwagen. Ich weiß zwar nicht warum. Aber es ist einfach schön. Und billig ist es auch.Wenn es geregnet hat, hat man es gehört. Der Regen ist auf den Wohnwagen rauf gekommen, als wenn kleine Steine drauf fallen. - Ich glaube, früher war es so, dass die Sinti überall ganz armselig gewohnt haben. Denk ich mal so. Aber keiner hat mir was darüber erzählt.Endlich ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma im Zentrum der Stadt200 Meter vom Südeingang des Reichstags entfernt, auf einer kleinen Wiese am Simsonweg, steht eine einfache Holztafel mit der handgeschriebenen Aufschrift: "Hier entsteht ein Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas". 1994 hatten sich der damalige Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) und der parteilose Kultursenator Ullrich Rohloff-Momin auf ein Mahnmal an diesem Ort geeinigt und sich dafür öffentlich ausgesprochen. Seitdem aber wurde die Entscheidung hin und her gewendet. Bis vor wenigen Tagen."Bekämpfung der Zigeunerplage" hieß der Runderlass, den 1936 der NS-Reichsinnenminister unterzeichnete. Zu den Olympischen Spielen sollte sich die Hauptstadt "zigeunerfrei" präsentieren. Alle Berliner Sinti-Familien wurden aufgrund des Erlasses unverzüglich auf einem Gelände am Rand des heutigen Stadtbezirks Marzahn "konzentriert", damals ein Dorf inmitten von Rieselfeldern. Etwa 1200 Sinti, die nicht nach Auschwitz verschleppt worden waren, um dort 1944 in den Gaskammern zu sterben, waren neun Jahre lang, bis zum Ende des Krieges, in diesem Lager interniert.50 Jahre danach wurde an diesem Platz auf dem Marzahner Parkfriedhof ein Gedenkstein aufgestellt. Vorausgegangen war ein beharrliches Ringen der Initiatoren mit den DDR-Behörden. Der Schriftsteller Reimar Gilsenbach hatte sich in der DDR jahrelang für die Rechte der Sinti und Roma eingesetzt, die nach dem Bau der Mauer 1961 dort ansässig blieben - eine Minderheit von einigen hundert Menschen. Er entwickelte auch die Idee eines Gedenksteins auf dem Gelände des ehemaligen Lagers, die von dem evangelischen Gemeindepfarrer Marzahns Bruno Schottstaedt aufgenommen wurde.Endlich, im September 1986, anlässlich des Gedenktags für die "Opfer des Faschismus", wurde der Stein überstürzt innerhalb des Marzahner Parkfriedhofs aufgestellt. Die Sinti-Familien wurden über diesen Termin nur vom Friedhofsgärtner informiert. Sie fanden sich dort noch rechtzeitig ein und spielten mit Gitarren und Geigen ihre Lieder.Ein unauffälliger Stein an einem abgelegenen Ort. Doch es war für die Berliner Sinti die erste öffentliche politische Anteilnahme am Schicksal der ermordeten Familienangehörigen. Der Zentralrat der Sinti und Roma forderte jedes Jahr im September am Reichstag gemeinsam mit der "Liga für Menschenrechte" die Einhaltung des 1994 gegebenen Versprechens.Lange wollte man sie nicht hergeben für ein Mahnmal, die kleine Wiese an der Scheidemannstraße, zwischen Reichstag und Brandenburger Tor, - als einen Ort des Erinnerns, täglich sichtbar für alle, für Berliner, für Besucher, für die Regierung. Stattdessen beabsichtigte man, draußen in Marzahn das bereits bestehende Denkmal "angemessen" herzurichten. Das Argument des "authentischen Ortes" musste dafür herhalten, dass im Zentrum der Stadt an keiner Stelle des Schicksals der Sinti und Roma Europas gedacht wurde. Nun wird doch endlich ein jedem Vorübergehenden sichtbares Zeichen für das Eingedenken deutscher Schuld gesetzt, als Unterpfand unserer Achtung vor der kulturellen Identität dieser in Teilen Europas heute noch verfolgten Minderheit.RomanesJanko Wir haben eine eigene Sprache: Romanes. Und wir sprechen auch den ganzen Tag in unserer Sprache. Die hat viele Sprachwurzeln. Von Indien bis nach Deutschland sind eine Menge Staaten und Länder dazwischen. Und von jedem hat sich so ein bisschen rein gemischt. Spanien, Italien, Frankreich. Aber wie wir auf die englischen Wörter gekommen sind, weiß ich auch nicht: zum Beispiel chip. Ist ein englisches Wort. Chip ist bei uns die Zunge. Aus dem Arabischen haben wir auch ein paar Wörter. Die Araber sagen zu "mein Freund" - "mabibe". Wir sagen "ma bibe" zu "meine Tante". Wir haben auch viele deutsche Wörter. Zum Beispiel Kerschofo. Wenn man drüber nachdenkt, kommt man drauf: Kerschofo - Friedhof.Der GroßvaterJanko Ich hab ein schönes Bild: Mein Opa, "Seemann". Den haben sie alle Seemann genannt. Ob er Seemann war, das weiß ich wirklich gar nicht. Ich glaube nicht (lacht). Aber es wird schon irgendwie seine Gründe gehabt haben, warum er Seemann hieß. Und meine Oma ist mit auf dem Bild. Und zwei Kinder. Sind meine Onkels. Zwillinge. Ja, auf dem Bild sieht der Seemann richtig gut aus. Trägt die damalige Mode. Anzug und Hut. Sieht aus wie Al Capone! Trägt einen feinen Schnauzer.Mein Opa war im KZ. Und seine ganzen Geschwister. Sie sind alle drin umgekommen. Außer mein Opa, der kam raus. Und er hat mir manchmal abends Geschichten erzählt. Über das KZ. Wie es da drin so vor sich ging. Einmal wollten die Wärter was von meinem Opa. Und der hat sich dagegen gewehrt. Und da haben sie ihn raus geführt, auf den großen, freien Platz da im KZ. Und haben ihm mit den Gewehrkolben, alle beide, so links und rechts, die Wachleute haben ihm voll gegen die Ohren geschlagen. Und da hat er aus den Ohren geblutet, hat er mir gesagt. Und deshalb war mein Opa auch taub auf beiden Ohren.Das sehe ich heute als ziemlich schlimm. - Bloß als Kind konnte ich mir darüber nicht so ein Bild machen wie heute: Wenn da einfach Leute ankommen, die dich gar nichts angehen. Die dich in irgendein Lager sperren und dich dann noch obendrein zusammenschlagen.BlickeLaila Manchmal, auf der Straße, wenn ich so mit Freundinnen gehe, passieren blöde Sachen, wie zum Beispiel: Scheiß-Türkin! Geh dahin zurück, wo du herkommst! - Meine Freundinnen wissen dann immer schon, wie sie mich zurückhalten müssen. Aber warum soll ich meinen Mund halten? Das lasse ich mir nicht gefallen. Wollen rechtsradikal sein, gehen aber Döner essen! Und hören ausländische Musik! Und manchmal gibt es Auseinandersetzungen. Und manchmal auch eine Schlägerei. - Ich weiß, dass das nicht gut ist. Aber warum soll ich das runter schlucken? Warum soll ich mir weh tun lassen? Ich bin hier in Deutschland geboren. Ich habe die deutsche Staatsbürgerschaft. Andere Leute werden doch auch so akzeptiert.Janko Angst, heute in Berlin zu leben, hab ich keine. Aber da gibt es noch die große Trennung zwischen Ost- und Westberlin. Wo man doch eigentlich sagt, die Grenze merkt man nicht. Ich merke sie ganz besonders. Wenn man in Westberlin abends unterwegs ist, da interessiert sich kein Mensch dafür, ob du braun, ob du schwarz, grün, orange bist. Aber im Osten, im Osten gucken sie dich an. Und erst recht in Lichtenberg, Marzahn, Hellersdorf. Da mustern sie dich richtig. Wenn man da mit der Straßenbahn fährt oder in ein Einkaufszentrum geht, da sehen sich alle um, als wenn du - Michael Jackson wärst! Jedenfalls, man merkt, dass man was anderes ist.Meine Hautfarbe. Meine Haarfarbe. Ich bin anders. Und das ist genau das, was sie sehen wollen. Wo sie denken, dass sie gleich Randale machen können: Den schlagen wir jetzt zusammen! Da merkt man Osten und Westen noch. Da kommen viele Gedanken hoch. Da denkt man sofort an das Dritte Reich und ans KZ.Wenn man sie einzeln trifft, dann sind sie alle tierisch okay: "Gegen dich hab ich ja nichts! Du lebst ja hier schon seit deiner Geburt! Und du arbeitest ja auch hier. Du bist okay! Aber ich mag die anderen alle nicht, die uns die Arbeit weg nehmen.!" - Alles Schwachsinn! Die wissen selber gar nicht, was sie wollen. Die folgen nur irgend einem, der es ihnen vormacht. Ein Älterer in der Clique, der ihr Idealbild ist, wahrscheinlich.WünscheSally Wenn ich groß bin, erwachsen und mir eine eigene Wohnung suchen kann, dann möchte ich mich erst mal umgucken, dass ich ein Haus kriege. Ein Haus finde ich besser als eine Wohnung. Da hat man seinen Garten. mehr Platz. Ja, und dann möchte ich gerne Kinder. Hab ich jetzt schon überlegt. Ich weiß, das ist ein bisschen zu früh. Aber ich möchte gern so zwei bis drei haben. Und als Beruf Model, Schauspielerin oder Stewardess. Früher war ja mein absoluter Traumberuf - damit hab ich meine Mutter immer gequält - das war mein längster Traumberuf: Balletttänzerin. Das war ja total blöd. Also, ich meine, ich könnte das nicht werden, ich bin ja viel zu groß.Laila Erst mal möchte ich einen Abschluss haben. Dann möchte ich vielleicht eine Lehre anfangen, die mir Spaß macht. Also einen Beruf, den ich auch nach der Lehre weiter machen möchte. Dann Führerschein. Vielleicht mal verreisen. Eine Wohnung. - Na, einfach leben. Nicht nur so von Amt zu Amt rennen. Einfach Sachen machen, die mir Spaß machen. Dass ich sehe, dass ich auch was allein auf die Beine bringe. Damit mein Selbstvertrauen gestärkt wird, was ich absolut nicht habe. Und dadurch kann ich den anderen zeigen, dass auch Sinti oder Roma machen können, was Deutsche schaffen. Das ist es eigentlich.Von mir denke ich, dass ich gut mit Leuten umgehen kann. Also für mich bedeutet es sehr viel, eine Arbeit zu finden, wo ich mit Menschen in Kontakt komme. Wo ich versuchen kann, Leuten zu helfen. Ich möchte noch lernen, mich selber mehr kennen zu lernen. Noch ein bisschen selbständiger zu werden.Janko So lang ich mich erinnern kann, hat mein Vater Gitarre gespielt. Meine Onkels haben Gitarre gespielt. Alle haben Gitarre gespielt. Ich erinnere mich, dass alle Musik gemacht haben. Und ich mache jetzt auch selber Musik. Ich spiele selten nach Noten. Es sei denn, ich muss ein Lied gerade lernen, das mir noch nicht so geläufig ist. Dann sind Noten schon ganz gut, obwohl ich wirklich nicht gerne nach Noten spiele. Lieber nach dem Gehör und nach dem Gefühl. Ja, nach Gefühl ist das Beste.
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