Bilderstürmer im Goldportal Nach jahrelanger Renovierung wurden mit Luk Percevals »Othello«-Inszenierung die Münchner Kammerspiele wiedereröffnet - im alten Rahmen fallen die Innovationen des Intendanten Frank Baumbauer erst richtig auf
Der lange Schlaf der Fantasie soll vorbei sein. Die neuen Münchner Kammerspiele provozieren ungewohnte Publikumsreaktionen, die beweisen: diesseits der Bühne ist Leben. »Irrenhaus!« »Das sind doch keine Kammerspiele!« »Sind Sie bald fertig mit dem Dreck!« Da ist Othello noch in vollem Gange. Und die Zuschauer gehen mit, wie man hört. Ist das nicht Musik in den Ohren eines Intendanten? Das Publikum lebt! Und zeigt eben lebhaft Interesse. Drei schier endlose Jahre Totalrenovierung waren eine arge Durststrecke für manchen angestammten Theaterfreund. Jetzt sprießen sie wieder, die vielbesungenen Jugendstilranken im bunten Kammerspielfoyer. Frische Farben, wenn es auch die alten sind, und ein Shakespeare zum Einstand. Kunstherz, was willst
as willst du mehr? Als der belgische Regisseur Luk Perceval vor knapp drei Wochen das Münchner Traditionshaus wiedereröffnete, war es, nun ja, gespalten.Zur Ehrenrettung des Publikums muss man sagen, es gab auch kräftigen Applaus und genug Bravos, um die Buhrufe schließlich zum Verstummen zu bringen. Wofür man die Inszenierung mögen kann, ist leicht einzusehen. Luk Perceval hat ein paar famose Darsteller versammelt, die momentweise tiefe Gefühle so glaubhaft verkörpern, dass es ans Herz geht. Was aber die Exaltation einerseits und andererseits die vehemente Ablehnung hervorgerufen hat, das müsste man dem unvoreingenommenen Beobachter von auswärts erst erklären. Gut, Regisseur Perceval hat - wie von ihm gewohnt - auf die klassische Möblierung der Bühne verzichtet. Was schlimmer ist, er hat bei Feridun Zaimoglu eine Neuübertragung der Tragödie bestellt, die wesentlich durch des Autors Lieblingsidiome geprägt ist. Eine Provokation für empfindliche Ohren, »klar Alter?«. Aber rechtfertigt das beinahe tätliche Übergriffe auf den Regisseur? Ausländerfeindliche Pöbeleien? Tatsache ist, das war so hier nicht Usus. So lautes, aggressives Schimpfen aus dem Zuschauerraum hat es hier seit langer, langer Zeit nicht mehr gegeben. Was sich jetzt Bahn bricht, ist der Rest eines nicht vertrauerten Abschieds, eine letzte Rebellion gegen den Verlust des Wohlvertrauten, Wiedererkennbaren. Und die Freudenfeier der Fantasiehungrigen.Jahrzehntelang war hier Theater nicht Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung, sondern einfach nur gepflegte Abendunterhaltung. Man urteilte ästhetisch. Wie das geht, lernte man in München vor allem in den Kammerspielen, wo Dieter Dorn als regieführender Intendant über ein Vierteljahrhundert, von 1976 bis 2001, seine Definitionsmacht auf dem Gebiet betonierte. Sein unbedingter Qualitätsanspruch stützte sich auf ein unzweifelhaft exquisites Ensemble, das sein Credo mit ihm teilte: Werktreue. Keine Zeile wurde gestrichen, jedes Komma gespielt. Die vollständige Bebilderung der Stücke fand ihre sichtbare Ergänzung in eleganter Bühnenarchitektur. Die Kammerspiel-Ästhetik, durch Dieter Dorn in immer absolutere Höhen getrieben, war und ist der dominante Sozialisationsfaktor des bayerischen Theaterbesuchers. Das ist eine große Leistung. Sie hat den Nachteil der Einseitigkeit. Fehlt, wie in München, ein starkes Gegengewicht - das Bayerische Staatsschauspiel bot es nicht konsequent und die freie Szene spielt in dem Zusammenhang keine Rolle - führt das zur Erstarrung. Und zur Routine. Sublimes Charakterspiel von der hoch hängenden Stange. Die Münchner hat das nicht gestört. Auch als zuletzt dringende Sanierungsmaßnahmen den normalen Spielbetrieb bedrohten, blieben sie geduldig. Leidend-liebevoll sprach man von den »Kummer-« und »Jammerspielen«, und wich der von Pleiten, Pech und Pannen verfolgten Baustelle nicht von der Seite. Die Auslastungszahlen der Ära Dorn verbieten jeden Zweifel: Das Theater entsprach den Bedürfnissen seiner Klientel. Wie bringt man ein Publikum, das es gewöhnt ist, sich Theater auf der Zunge zergehen zu lassen, dazu, wieder kraftvoll zuzubeißen? Durch Intendantenwechsel.Julian Nida-Rümelin, damaliger Kulturreferent, ordnete die epochale Zäsur an, als er Dorns Vertrag nicht verlängerte und Frank Baumbauer zum Saisonbeginn 2001/02 vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg an die Isar holte. Eine programmatische Entscheidung für zeitgenössisches Theater und gegen unangreifbaren Klassizismus. Föderalistische Ironie: Das Land Bayern ergriff die Gelegenheit bei den Haaren und entschied seinerseits - in Gestalt des Ministers Hans Zehetmair: Goethe, Kleist, die alten Griechen, Shakespeare, Strindberg, Strauss, Beckett, Büchner, die Biermösl Blosn - wir möchten sie nicht missen. Dorn bleibt. Und wird Staatstheaterintendant. So zog der mit fast geschlossenem Ensemble auf die Nordseite der Maximilianstraße. Auf der Südseite dauerten die Bauarbeiten an.Im Nachhinein hat die unfreiwillige Übergangszeit Vorteile. Baumbauer musste sich zunächst um keinerlei Altlasten kümmern. Statt dessen fing er mit neuen Leuten in unbespielten Räumen ganz von vorn an. Das gerade besenreine Probengebäude vis-à-vis vom Haupthaus wurde als Neues Haus zur Interimspielstätte. Und für große Projekte mietete man für zwei Jahre eine ehemalige Fabrik außerhalb des Zentrums. Hier in der Jutierhalle erlebte München endlich, zwei Jahre nach der Premiere, die Revolution der Shakespeare-Deutung mit Luk Percevals Rosenkriegs-Schlachten! Wer hätte gedacht, ein Münchner Publikum würde sich eisern zwölf Stunden auf befilzte Bänke setzen? Mit oder ohne Maßanzug, aber mit Begeisterung. Dorns Shakespeare-Monopol war gebrochen.Vielleicht half der Event-Aspekt. Im Repertoire-Alltag unter verschärften Bedingungen ist der Spagat schwieriger. Die alten Bilder nicht bedienen, aber das Publikum bei der Stange halten. Drahtseilakte der Art sind Frank Baumbauer zum Glück nicht fremd. Er hat die Basler geknackt und die Hamburger Kaufleute überzeugt. Nicht mit Kunstkompromissen, sondern Diplomatie und kluger Planung. So ist er mehrmals zu »Deutschlands erfolgreichstem Intendanten« gekürt worden. Jetzt, in München, ist er zuversichtlich. Es lohne sich, Kunst in die Köpfe zu investieren. Die ersten anderthalb Jahre, in denen die Kammerspiele unter seiner Führung nach allen Seiten - ästhetisch, geographisch und demographisch - Neuland beackert haben, widersprechen dem nicht. Man konnte es sich in den Provisorien der neuen Kammerspiele nicht bequem machen, wenn man den Weg dahin gefunden hatte. Aber die gefürchteten Einbrüche bei den Abonnements blieben vorerst aus. Natürlich fällt es leichter, dem Neuen eine Chance zu geben, wenn man auf Altbewährtes nicht verzichten muss. Frank Baumbauer nennt das Phänomen die »wundersame Abonnentenvermehrung«. Bayern ist schließlich keine strukturschwache Region: »Wer ko, der ko« und abonniert eben beide Theater. Selbst was die Feuilletons kritisch verwarfen, fand noch genug Anklang. Zumindest weckte es Neugier. Neue Stücke, neue Gesichter und andere Regisseure boten frischen Stoff. Höchste Zeit. Jon Fosse und Sarah Kane beispielsweise sind andernorts längst eingeführt. Junge Autoren wie Enda Walsh, Igor Bauersima oder Lukas Bärfuss sprechen auch die notorisch theaterferne Jugend an. Stichwort: heutige Themen. Vom Alter der Zielgruppe unabhängig und besonders verführerisch waren: Jossi Wielers Alkestis nach Sophokles - bürgerliches Autopsietheater vom Feinfühligsten. Luk Percevals stiller, zarter Totenreigen Traum im Herbst. Und Der starke Stamm, eine unbayerische Fleißer-Adaption vom Berliner Exilbayern Thomas Ostermeier. Christoph Marthaler war endlich da, wenngleich mit Elfriede Jelineks In den Alpen nicht ganz auf der Höhe. Dafür bekam Andreas Kriegenburg - wann war der das letzte Mal in München? - für seine Orestie gleich eine Einladung zum Theatertreffen. Die dritte für die Kammerspiele seit Baumbauers Amtsantritt. München steht wieder auf der Agenda der Besten-Jury. Mal sehen, ob das bei den Skeptikern vor Ort nicht Eindruck macht.Natürlich wurde manchen, der Theater-Immobilie besonders Verbundenen, der »Jugendstil« jetzt zu wörtlich interpretiert. Auf erste Anflüge von »Poptheater« (oder was man als solches verstand), Schmuddel und Abstraktion reagierte München verschnupft. Inzwischen lernt man, besser zu differenzieren. Hingegangen wird, wenn nötig, trotzdem. Gastregisseur Lars-Ole Walburg, der Dantons Tod vor unseren Füßen in den Schlamm setzte und mit zeitgeschichtlichen Texten von heute infizierte, musste sich wundern. Regelmäßig werde er bei Publikumsgesprächen heftig angegriffen. Dennoch, sagt er, habe er weder in Hamburg noch in Berlin ein so kluges und gebildetes Publikum erlebt.Dass die Vorstellungen ausverkauft sind, spricht für sich. »Im Süden«, sagt der Intendant, »ist Kultur einfach anders besetzt, als im Norden«. Er muss es wissen. »Am extremsten ist es sicher in Wien, wo die Kultur zum alltäglichen Lebensmittel gehört, so wie der Kaffee. Ich liebe Hamburg. Aber wenn es dort darum geht, sich zwischen Kaffeebohne und Kultur zu entscheiden, entscheiden sie sich für Kaffeebohne. Das Bedürfnis ist nicht so wie hier.« Nach Österreich komme gleich Bayern, ein bisschen Baden-Württemberg »und dann wird´s schon flacher. Dann kriegt man schon kein Echo mehr, weil auch keine Berge mehr da sind.«Ein Echo kann so oder so tönen. Othello wird noch nicht so leicht goutiert. Nach der Lebensmittel-Formel müssen sich die Genussgewohnheiten erst umstellen. Verstörte Abonnenten und andere Traditionalisten begreifen erst seit dem 29. März, was sich wirklich verändert hat. Da ist das goldumrandete Bühnenportal wieder, doch der Inhalt fällt aus dem altvertrauten Rahmen. Die Decke wird niemandem mehr auf den Kopf fallen, heißt es. Aber die Nagelprobe ist noch nicht bestanden. Wird München Othello lieben lernen?
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