Liest man eine der normalen Geschichtsdarstellungen, so ist man versucht zu glauben, Geschichte spiele sich zwischen einigen Dutzend Leuten ab, die gerade "die Geschicke der Völker lenken". "Wir anderen, Anonymen, sind, so scheint es, bestenfalls Objekte der Geschichte, Bauern in einer Schachpartie, die vorgeschoben, stehen gelassen, geopfert und geschlagen werden."
Diese anonymen Opfer der Geschichte sind in Wirklichkeit, so Sebastian Haffner weiter, alles andere als passiv: Sie fällen die wesentlichen historischen Entscheidungen, und zwar ohne dass die großen "Lenker" etwas dagegen ausrichten könnten. Mit diesem Haffner-Zitat leiten Inge Kurtz und Jürgen Geers ihr kürzlich erschienenes Buch zur gleichnamigen 16stündigen Original-Ton-Collage Unter dem Gra
Unter dem Gras darüber ein.Wie in vielen ihrer Radioarbeiten stehen eben jene "Anonyme" im Mittelpunkt, die das 20. Jahrhundert keineswegs als außergewöhnliche Menschen erlebt haben. Gerade deswegen haben Inge Kurtz und Jürgen Geers sie eingeladen zu erzählen. Sie wollten zum Abschluss des 20. Jahrhunderts nicht die "großen Geschichtslenker" porträtieren, sondern die seelische Atmosphäre der Zeit einfangen.Dafür haben sie in über fünf Jahren mehr als 100 Menschen befragt und 350 Stunden Interviewmaterial aufgezeichnet. Das Ergebnis mehrerer Auswahl-, Kürzungs- und Verdichtungsprozesse ist ein Panorama des 20. Jahrhunderts, vergleichbar mit den Bildern des Kubismus: Viele unterschiedliche, teils gegensätzliche Erlebnisse und Wahrnehmungen, die sich mal ergänzen, mal konterkarieren, ohne dass ein erläuternder Kommentar notwendig würde.Die Collage beginnt mit Erinnerungen an die Jahre um 1900 und endet mit Erzählungen von der Zeit direkt nach der Wende. So kann es sein, dass die Hörer auf Seite eins der Kassette eins die gleiche Frau von der eigenen strengen Erziehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts reden hören, die sieben Kassettenseiten später das Leben ihres Enkel im antiautoritären Kinderladen beschreibt.Immer neue Stimmen kommen dazu, manche lassen sich über Jahre hinweg verfolgen. Sei es, dass sie sich mit ihrer besonderen Klangfarbe einprägen, oder dass sie einen auffälligen Dialekt sprechen - jedenfalls baut der Wiedererkennungseffekt eine Bindung auf und erzeugt Spannung, die dazu beiträgt, dass während der gesamten 16 Stunden keine Langeweile aufkommt.In den ursprünglichen 350 Stunden Interviewmaterial inhaltliche Schwerpunkte zu finden, fiel Inge Kurtz nicht schwer. "Die Themen ergaben sich mehr oder weniger von selber. In jedem Lebenslauf spielt die Kindheit eine Rolle, die Beziehung zu den Eltern, die Schule, Sexualität, der Berufswunsch, die erste Liebesbeziehung und so weiter. Dann kommen natürlich noch die historischen Ereignisse dazu, aber ob jetzt an einem bestimmten Tag irgendein Mann gewählt wurde, Hitler an die Macht kam oder so, hat die Menschen oft nicht so interessiert. Sie hatten andere Probleme." Die beiden Autoren haben sich auf die erste Hälfte des Jahrhunderts konzentriert. Innerhalb dieser 50 Jahre nehmen die Schilderungen der Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg besonders viel Raum ein.Am Thema "Drittes Reich" werden die Vorteile der unkommentierten Collage besonders deutlich. Würden die Autoren die Aussagen der Interviewten bewerten oder eindeutig einordnen, nähmen sie damit nur das vorweg, was sich als spontane Reaktion sowieso anbietet. Da sie aber selbst drastische Berichte für sich sprechen lassen, ist der Zuhörer weniger starr auf schnelle moralische Kategorisierung eingestimmt. Trotzdem erscheinen die Taten oder Verhaltensweisen nicht weniger schlimm. Das verhindert das direkte Nebeneinanderstellen der unterschiedlichen, manchmal konträren Perspektiven: Während der eine in der "Reichskristallnacht" stolz mit der italienischen Thyssen-Sekretärin Grete im BMW-Cabriolet durch die Stadt fährt, räsoniert der nächste über die "verrückte Sach´", dass der Hitler bloß die kleinen Juden erwischt hat, die großen aber alle nach Übersee entkommen konnten. Daraufhin zählt einer die Argumente der antisemitischen Propaganda auf, um am Ende einen damaligen Schlager zu intonieren: "Schmeißt sie raus, die ganze Judenbande! Schmeißt sie raus aus unserm Vaterlande! Schmeißt sie raus bis nach Jerusalem und hack ihn´ noch die Beene ab, sonst komm´se wieder heem!" Dann sind die erstaunte Beobachtungen eines Omnibusfahrgastes zu hören, der nicht gemerkt hatte, dass Juden sich nicht setzen dürfen, danach das Untertauchen eines Emigranten in Paris, die Übersiedlung eines kleinen jüdischen Jungen ins Kinderheim, die Erziehung eines Mädchens, das lernt, nicht "Judensau" zu sagen ...All diese Geschichten ziehen in den Bann, weil sie voller Zutrauen erzählt werden. Es ist zu hören, dass niemand unter Druck unangenehme Fragen beantworten musste, dass es keinen Grund gab, sich zu verstellen, zu verkürzen oder verschönen - jedenfalls keinen, der die Interviewsituation betrifft.Wenn doch manchmal sehr knappe, fast ausweichende Sätze zu einem Thema zu hören sind, oder wenn der Klang der Stimme nicht zum Inhalt des Gesagten passen will, kann sich der Hörer ausmalen, dass ein vielleicht nicht ganz einfaches Verhältnis zum eigenen Leben vorliegt. Ein Vorteil des akustischen Mediums vor der schriftlichen Form, wie das Mitlesen im Buch eindeutig zeigt: Gerade die ambivalenten Selbsteinschätzungen äußern sich in nonverbaler Kommunikation.Die Sprechweise von Josef Selmayr ist ein sehr einprägsames Beispiel dafür. Seine oft kurzen, abgehackten Sätze erinnern sofort an Kasernenhof-Drill; der schnelle Rhythmus, vorgegeben durch die immer wieder Zäsuren setzenden "mhms", vermittelt Rastlosigkeit oder auch ein langes Training in soldatischer Kürze. Die "mhms" selbst wirken manchmal so, als wolle er damit um Zustimmung und Verständnis werben, dann wieder klingt er für eine solche Bitthaltung doch zu autoritär und unabhängig. Die ambivalente Botschaft der Stimme steigert noch den Eindruck, dass die Geschichte von Josef Selmayr vielschichtig und seine Einschätzung des eigenen Lebens nicht eindeutig zu erfassen ist. Selmayr gehört zu den wenigen Tätern nationalsozialistischer Verbrechen, die die beiden Autoren vor dem Mikrofon hatten. In Jugoslawien war er als Befehlshaber an einer Aktion beteiligt, die den Überfall auf 50 deutsche Soldaten mit der Erschießung von 5.000 jugoslawischen Männern und Schülern rächte. Er wurde dafür angeklagt, inhaftiert und nur durch Zufall nicht hingerichtet. Was erzählt ein Mensch von solchen Taten und Erlebnissen? In der Collage erzählt Selmayr seine Taten lange nach seiner Inhaftierung. Das ist nicht nur dem Aufbau der Sendung geschuldet, sondern auch Selmayrs Haltung zur eigenen Biographie. Den Besuch des später errichteten Denkmals für die 5.000 Ermordeten kommentiert er mit "es is nich wieder gut zu machen". Das wirkt so, als habe dieser Mann möglicherweise etwas von den Dimensionen seiner Taten begriffen.Dann wieder spricht er über die Bestrafung und Hinrichtung derjenigen, die für diese nicht wieder gut zumachende Tat verantwortlich waren, als sei diese mehr als übertrieben gewesen und das Ganze doch nicht überzubewerten: Erschießungen, zumal des Feindes, waren damals für Selmayr keine ungewöhnliche Tat, die langes Nachdenken oder nachträgliches Rechtfertigen verlangt.Dass Josef Selmayr überhaupt von solchen Ereignissen erzählt, ist schon erstaunlich genug. Inge Kurtz und Jürgen Geers haben die Erfahrung gemacht, dass jeder selbstverständlich am liebsten Geschichten erzählt, in denen er gut wegkommt - schon gar nicht spricht man vor dem Mikrofon gern von der eigenen Schuld. Andererseits fanden die Interviews auf freiwilliger Basis statt, ohne konkretere Vorgaben als "Erzählen Sie uns Ihr Leben." Es stellte sich dann heraus, so Jürgen Geers, dass "viele einen Punkt hatten, den sie offenbar angesteuert haben, ihr Lebenstrauma oder ihr Lebensschwerpunkt, wo die Erzählung dann besonders intensiv wurde. Wenn wir das Gefühl hatten, sie wollen über diesen Punkt weniger sprechen, aber plötzlich bricht etwas auf, kommt ihnen etwas in den Sinn, dann haben wir das natürlich gern aufgenommen. Wir hatten ja nicht die Verpflichtung, die Menschen nach bestimmten Themen auszuquetschen".Ganz im Gegenteil waren die Interviews eigentlich eher Gespräche, die mindestens zwei Stunden, manchmal über mehrere Tage verteilt acht Stunden gedauert haben. Der großzügige Zeitrahmen war wichtig, denn Erinnerungsprozesse sind nur in einer vertrauensvollen Atmosphäre möglich. Inge Kurtz beschreibt: "Viele Menschen haben sich, während sie uns erzählten, plötzlich an Dinge erinnert, über die sie lange nicht gesprochen haben, oder die vielleicht gar nicht mehr so präsent waren." Diese Momente, in denen Menschen von ihren Erinnerungen überwältigt werden, gehören zum Bewegendsten, was im Radio zu hören ist von deutscher Geschichte. Zuhören zu dürfen, wie Menschen sich im Erinnern an das erneute Durchleben der Vergangenheit wagen, ist ein bisschen so, wie selbst dabei gewesen zu sein.Diese Wirkung ist es, die Inge Kurtz und Jürgen Geers mit ihrem Lebenswerk erzielen möchten: "Wir verspüren beim Anhören dieser Mitteilungen, die manchmal wie Vermächtnisse klingen, eine emotionale Nähe zu diesen Menschen. Wir hoffen, dass es uns gelungen ist, auch unseren Hörern diese emotionale Nähe zu vermitteln. Geschichte ist erst dann vergangen, wenn sie uns nicht mehr berührt."Den Erfolg ihres Anliegens bestätigen Kritiker und Hörer gleichermaßen. Unter dem Gras darüber gewann 1999 den Hörspielpreis der Kriegsblinden, das ist die bedeutendste Auszeichnung der Gattung im deutschsprachigen Raum. Zur Überraschung von Jürgen Geers ging das Konzept auch für Hörer auf, die nicht aus freien Stücken zugehört haben: Einmal hat er - auf Wunsch der Lehrerin - 15jährigen Schülern einer Realschule sechs Stunden aus Unter dem Gras darüber vorgespielt, einigermaßen misstrauisch ob des Gelingens der Aktion. Die Schüler machten es sich auf Liegematten in der Aula bequem, hörten still zu, und erzählten ihm hinterher beeindruckt: "Teilweise haben wir das gewusst, was wir gehört haben, aber wir haben uns das nicht so vorstellen können. Wir haben uns diese Armut nicht vorstellen können, wir haben uns diese Brutalität nicht vorstellen können, und es ist uns so nahe gekommen, weil es so gewesen ist, wie wenn mein Opa erzählt. Aber mein Opa erzählt nicht."Viele haben nicht erzählt, aber Jürgen Geers hat sich auch gefragt, warum er selbst nicht viel früher angefangen hat, sich umfassend für Lebensgeschichten zu interessieren: Das entspricht einerseits klar dem Berufsalltag des Journalisten, der aus rein ökonomischer Sicht verlangt, dass ein Auftrag thematisch und zeitlich sehr konkrete Vorgaben setzt. Mit früheren Projekten haben sich die beiden Autoren zwar auch schon außerhalb dieses Rahmens bewegt: 1982, während der documenta in Kassel, gaben sie im "Meinungscontainer" den Besuchern die Möglichkeit, anonym ihre akustische Selbstdarstellung aufzuzeichnen. 1987 initiierten sie eine Serie 20minütiger Reden, die Bürger unter der einzigen Bedingung halten konnten, frei zu sprechen und mit der Anrede "Liebes Volk" zu beginnen.Den großen Unterschied von Unter dem Gras darüber aber macht die Länge von 16 Stunden aus. Sie hat ermöglicht, die streng funktionale Interviewführung über Bord zu werfen und auf Geschichten wie die von Josef Selmayr zu stoßen. Solche Tätergeschichten auch interessant zu finden, war lange nicht möglich, "da man, soweit man ein bisschen links gestrickt war", so Jürgen Geers, "an erster Stelle dafür gesorgt hat, dass Auschwitz dokumentiert ist und der deutsche Angriffskrieg." Die Erfahrungen mit dem Projekt Unter dem Gras darüber haben eine andere Haltung zum Vorschein treten lassen: "Uns wurde dann langsam bewusst: wenn man mit Menschen redet, dann redet man über ihr gesamtes Schicksal, ob das jetzt in das jeweilige ideologische Konzept passt oder nicht."Inge Kurtz/Jürgen Geers: Unter dem Gras darüber. Ein Jahrhundert deutscher Geschichte. Zeitzeugen erzählen, Wilhelm Goldmann Verlag München 2002. 22,90 EURDie gleichnamige Hörbuchedition ist erschienen bei derhörverlag München, produziert von hr2 und text ton, 1999/2000, Gesamtlaufzeit 894 Minuten, 10 MC, 102,- EUR
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