Die Äußerungen des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, in Europa müsse jetzt mehr auf Wachstum als aufs Sparen gesetzt werden, lassen sich – je nach Übel- und Wohlwollen der Kommentierenden – als taktisches Setzen einer Duftmarke oder als strategisch bedeutsame Orientierung werten.
Im ersten Fall hätten wir es mit einem Beleg für Bereichsopposition zu tun. Diese ist eine Erfindung aus der Nachkriegsgeschichte Österreichs. Dort hatten – so lange das Land seine volle Souveränität nicht wieder erlangen konnte – Konservative und Sozialdemokraten in großen Koalitionen regiert, danach setzte sich das noch elf Jahre lang fort und kam später immer einmal wieder. Das Prinzip besteht darin, die eigenen Anhänger dadurch z
dadurch zu halten, dass jede Partei sich zwar zur – notgedrungenen – Beteiligung an der Regierung bekennt, zugleich aber die Minister der anderen Seite kritisiert. Da Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble fürs Sparen eintreten, liegt es in der Taktik der Bereichsopposition, dass der SPD-Chef für Wachstum plädiert, sich dabei allerdings der Belehrung aussetzt, beide Varianten schlössen einander gar nicht aus.Im Fall Österreichs hat sich das Klein-Klein einst ausgezahlt. Nachdem die SPÖ lange Zeit nur den Vizekanzler stellen konnte, schaffte sie es 1970 mit Bruno Kreisky an die Spitze und eröffnete parallel zu Willy Brandt ein sozialdemokratisches Zwischenzeitalter. Dazu ist jedoch mehr nötig als subalternes Granteln an einer vorerst noch übermächtig erscheinenden Regierungschefin, sondern – heute wie damals – ein größeres Projekt.Es ist vorstellbar, dass Sigmar Gabriel dies ebenfalls weiß und sich danach verhält. Er gilt als der Anreger jenes Manifests gegen eine ausschließliche Fassadendemokratie in Europa, mit dem 2012 die Professoren Bofinger, Habermas und Nida-Rümelin hervortraten. Sie befürworteten eine Art horizontales Umverteilungsregime innerhalb der EU, das durch mehr direkte Demokratie legitimiert werden sollte. Im Wahlkampf zückte Gabriels SPD die soziale Karte und kann sich nun Mindestlohn und Rente mit 63 (für einige Jahrgänge) gutschreiben. Wenn im Herbst 2014 Thomas Pikettys Buch über das Kapital im 21. Jahrhundert mit seinen Vorschlägen für die Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen ins Deutsche übersetzt (und einige Zeit danach vielleicht sogar gelesen) sein wird, könnte auch hierzulande eine große Debatte einsetzen und einen wirtschaftspolitischen Umschwung einleiten – eine neue keynesianische Periode. Eine solche Wende hat einflussreiche publizistische Fürsprecher, vor allem in den Vereinigten Staaten. Das wäre eine zwar nicht gleich globale, aber doch transatlantische Auseinandersetzung, die mehr ist als nur parteitaktisches Kalkül, dieses aber irgendwann aufgehen lassen könnte.In einem solchen Kontext mag Sigmar Gabriel vom reinen Parteipolitiker sogar zum Parteiführer mit strategischer Statur heranwachsen. Das kann fast jedem gelingen, wenn er zur rechten Zeit in die richtige historische Konstellation hineingerät. Ob die jemals kommen wird, bleibt freilich offen. Auch andere mussten lange warten, zum Beispiel Helmut Kohl, dem jahrelang so gut wie niemand etwas zutrauen mochte.Bis dahin ist ein Politiker daran zu messen, was er in der Mühsal der Opposition leistet, unabhängig davon, ob später tatsächlich der ganz große Erfolg gelingt. Auch dafür gibt es Vorbilder, etwa Hugh Gaitskell, während der 50er Jahre im britischen Unterhaus Labour-Oppositionsführer, der es nie zum Premierminister brachte.Die bisherige Bilanz von Sigmar Gabriel ist nicht schlecht. Ihm hilft, dass er ziemlich weit unten anfangen musste und Niederlagen nicht verursachte, sondern erbte. Sein Amt als Ministerpräsident von Niedersachsen verlor er 2003 dank der Regierungskunst des Kanzlers Schröder. Als Gabriel 2009 Parteichef wurde, brauchte er zunächst nur auszusprechen, was vor Augen lag: dass die SPD katastrophal eingebrochen sei. Danach hatte er den Bonus dessen, der kaum noch etwas falsch machen konnte. Er versuchte, die SPD für eine Partizipation von sympathisierenden Nichtmitgliedern zu öffnen. Dass er 2003 bis 2005 Beauftragter für Popkultur und Popdiskurs seiner Partei („Siggi Pop“) gewesen war, gehörte zu einem Modernisierer-Image. Er hat sogar versucht, der altehrwürdigen Sozialistischen Internationale (SI), die unter anderem durch die Mitgliedschaft der Partei Hosni Mubaraks diskreditiert war, das Licht auszublasen und sie durch eine „Progressive Allianz“ zu ersetzen. Das wäre eine Annäherung an die US-Demokraten gewesen. Auch so etwas hat man in der Zeit Willy Brandts – sowohl in dessen Anfängen als Berliner Bürgermeister und SPD-Vorsitzender wie in seinen späten Jahren als Präsident eben dieser SI – schon einmal erlebt.Gabriel ist Mitglied des parteirechten Seeheimer Kreises. Die sozialpartnerschaftliche Gewerkschaft Bergbau-Chemie-Energie hat in der SPD neuerdings an Einfluss gewonnen. Seine Schwenks als Wirtschaftsminister zugunsten der einschlägigen Konzerne erklären sich auch dadurch. Eine Bundesrepublik ohne Linkspartei und dafür mit dem parlamentarischen Monopol der Sozialdemokraten diesseits der Union wäre ihm wohl am liebsten. Auf dem Weg dorthin ist aber der Hinweis auf die Möglichkeit eines Regierungsbündnisses mit der ungeliebten Konkurrenz ein Mittel zu mehreren Zwecken.Der SPD-Stallgeruch wirkt bei Gabriel, der ganz jung bei den Falken und in der Goslarer Kommunalpolitik anfing, echt und nicht als Parfüm. Tatsächlich hat er es inzwischen schon – nach Erich Ollenhauer (1952 – 1963) und Willy Brandt (1964 – 1987) – zur drittlängsten Amtszeit an der Parteispitze gebracht.