Am Anfang ist die Idee. Und die macht neugierig: Ein Magazin ohne Papier, ohne Online-Content, ohne Abo. Ein Magazin, das nur eine Nacht lang besteht. Und dann vergriffen ist. Für immer. Keine Spuren auf vergilbtem Papier. Kein Pfad im Netz. Nur in der Erinnerung derer, die dabei gewesen sind. Exakt 75 Minuten lang soll „Deutschlands erstes Live-Magazin“ bestehen, es verspricht nicht weniger als die viel diskutierte Zukunft des Journalismus.
Der Kunstverein in Hamburg. Freitagabend, 20 Uhr. Hier soll diese Zukunft also stattfinden. User, Leser, Autoren, Chefredakteure und Blogger vereint in der idealistischen Vorstellung von einem Journalismus abseits des Mainstream. Hier drinnen darf geträumt werden. Von einem Magazin, dem keine Grenzen gesetzt werden. Der Eintritt is
intritt ist frei. Die Krise soll draußen bleiben. Sinkende Auflagen und Werbebudgets auch. Platz ist im Kunstverein sowieso keiner mehr. Bis in die hinterste Ecke drängen sich kreative Kastenbrillen und kunststudierende Ponyfrisuren. Wer will sich schon die Verlebendigung und Wiederauferstehung des Journalismus entgehen lassen?Mut fordern sie, Hingabe, Leidenschaft und neue Ideen. Die Macher der „GutenSeiten“ sind angetreten, um zu präsentieren, wie innovativ Journalismus sein kann. Das ist ihr Anspruch. Ihr Projekt: Eine Bühne statt Papier oder Online-Content. Aus den Boxen dröhnen Beats. Henri-Nannen-Schülerin Sara Maria Manzo und Matthias Weber von der Kreativen-Plattform Checkdisout.com versuchen sich als Anheizer.Viel Herzblut, keine KlickstreckenDie erste Seite des Performance-Magazins schlägt art-Redakteur Alain Bieber auf. Gemeinsam mit seiner Frau betreibt der Kunstmensch das Projekt „GuteSeiten“, einen virtuellen Kiosk für Fanzines und Magazine in Kleinstauflage. In einer Art vorgelesenem Editorial bereitet er auf den Abend vor. Es soll ein Abend ohne „sinnlose Klickstrecken“ werden, dem Synonym für flachen Onlinejournalismus. Stattdessen viel Herzblut. Das größte Problem der Verlage in der Diskussion um neue journalistische Wege sei ihre „Angst und Arroganz“, kritisiert Bieber. Die gelte es abzulegen. Man will zeigen, wie es geht.Jeweils sieben Minuten stehen den Autoren unterschiedlichster Magazine zur Verfügung, die stets ein abwechselndes Ressort auf der Bühne "performen" sollen. In der Ankündigung klang es so innovativ. Das Ressort „Musik“ hatte ein Interview der Missy Magazine-Chefredakteurin mit DJ Pattex im Line Up – mit Livemusik. Das Ressort „Feinschmecker“ kündigte eine Kochperformance an. Wem die Modestrecken in Magazinen zu öde sind, konnte sich auf eine Fashionshow freuen. Und unter der Rubrik „Liebe, Sex und Zärtlichkeit“ ging Journalist und Ex-Pornodarsteller Till „Pornorazzi“ Kraemer multimedial ins Rennen. Klingt alles so, als hätten die vielen Gäste im Kunstverein einen amüsanten Abend erlebt. Doch dem war nicht so.Denn herausgekommen sind fast zwei Stunden unvorbereitete Schülerzeitungsshow. Ohne Leidenschaft und ohne Witz. Die Kochperformance findet gar nicht statt, beim Musik-Act fällt der Ton aus. Im Ressort „Sport“ sitzen zwei Schreiberlinge des Supra Magazins auf der Bühne und nuscheln einen Text über die Geschichte des FC St. Pauli unverständlich ins Mikrofon. Das klingt sehr nach Wikipedia, sehr nach hingerotztem Aufsatz. Leidenschaft und Innovation sind nicht herauszuhören. Auf einer Leinwand zeigen verwackelte Kamerabilder auch den Zuschauern in den hintersten Ecken, was auf der Bühne passiert. Doch das Licht ist zu hell, als dass man etwas erkennen könnte. Vielleicht ist es besser so. Als kreatives Chaos getarnter Dilettantismus stellt Zuschauer auf eine harte Probe."Die Leute wollen etwas Neues"Statt eines Performance-Magazins stellen sich die Autoren der jeweiligen Rubriken meist nur auf die Bühne, um ihre Printartikel vorzulesen. Improvisation wird mit Innovation verwechselt. Gedrucktes einfach vorlesen: Ist das die Zukunft des Journalismus? „Die Idee zählt“, sagt Juliane, selbst Grafikerin bei einem der größten Print-Magazine Deutschlands, ist aber auch froh, dass ihr Medium in nächster Zeit keine ernst zu nehmende Konkurrenz von einem Live-Magazin zu erwarten hat. Trotzdem, man hatte schon auf mehr gehofft. Die Lust auf neue Wege ist groß. „Sonst wären heute Abend auch niemals so viele Leute gekommen“, sagt Architektur-Student Dennis und lässt sich gern gegen die Wand drücken. „Die Leute wollen was Neues. Aber nicht um jeden Preis. Wer der Debatte um Qualitätsjournalismus etwas entgegensetzen will, muss mehr bieten als vorgelesene Schüleraufsätze“. Print ist tot? Von wegen. Mancher mit Leidenschaft geschriebene Lokalzeitungs-Artikel über einen Karnickelzüchterverein dürfte lebendiger sein, als dieser Abend.Lediglich im Ressort „Kunst“ hat man in Ansätzen verstanden, um was es bei dieser Veranstaltung gehen soll. Die Künstlerinnengruppe „Spring“, die einmal jährlich das gleichnamige Magazin mit Beiträgen zwischen Kunst und Comic herausgibt, versucht sich im zeichnerischen Improvisationstheater. Auf Zuruf wird gezeichnet und gemalt, die Ergebnisse am Ende versteigert. Da wird der Zuschauer wenigstens nicht für blöd verkauft, sondern eingebunden.Angst und ArroganzDen meisten „Performance-Autoren“ wird jedoch das zum Verhängnis, was art-Mann Bieber im „Editorial“ bei den großen Verlagen kritisiert (und damit wohl auch bei seinem Arbeitgeber Gruner+Jahr): Angst und Arroganz. Ängstlich sind die Auftritte, bei denen man sich am gedruckten Wort festhält. Arrogant die nicht augenzwinkernd gemeinte Behauptung, man würde eine neue Version des Journalismus erzeugen und Geschichte schreiben.Weniger Kreativität hat hier, in den Hallen des Hamburger Kunstvereins, wohl selten stattgefunden. Die Nachwuchsjournalisten verdeutlichen erst, wie schlecht es der Branche geht. Die Zukunft des Journalismus jedenfalls, die muss noch etwas warten. Nächster Vorschlag, bitte.