Gesellschaftstheoretische Wurzeln einer emanzipativen Pädagogik (2)

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Vorbemerkung:
In Teil 1 der gesellschaftstheoretischen Wurzeln rekurrierte ich auf die notwendigen Kategorien einer Kritischen Theorie: Dialektik und Aufklärung, Kritik der Ideologien und Rituale, Gesellschaftstheorie und Erkenntniskritik, Selbstreflexion und Emanzipation, Interaktion und kommunikatives Handeln, Entfremdung und Ich-Identität. Ohne solche fundierenden Begriffsnetze (notwendig auch mit einigen ausgewiesenen zeitgemäßen Modifikationen, wie es sich für Rhizomatiker gehört) bleibt man im FREITAG nur „irgendwie links“, irgendwie gefühlt, eben nur ein allgemeines „Meinungsmedium“.

Worauf gründet eine kritisch-emanzipative Erziehungswissenschaft ihren Emanzipationsbegriff? Im Wesentlichen im Rückgriff auf eine 2000-jährige Befreiungs- und Widerstandsgeschichte: Befreiung von Sklaverei, Knechtschaft und Diskriminierung, von der Antike, zur französischen Revolution bis hin zu Arbeiter- und Frauenemanzipationsbewegungen. Freiheit, Gleichheit, Solidarität als Leitideen bedeuteten im Umkehrschluss: Beseitigung von Ausbeutungsverhältnissen, Abschaffung von sozialer Ungleichheit und damit historisch überholter Repressivität gesellschaftlicher Verhältnisse.
Textuell beziehen sich alle kritischen ErziehungswissenschaftlerInnen auf Karl Marx und/oder die Kritische Theorie, insbesondere Jürgen Habermas. Beide gehören Ende der 60er Jahre/Anfang der 70er Jahre zu den meist zitierten Autoren in der Pädagogik.

Ausführlich will ich Marx in einer von mir verdichteten ‘Textmontage’ zu Wort
kommen lassen, um deutlich zu machen, wie sich theoretische Einschätzungen und
Konklusionen, Zitate, Versatzstücke, geflügelte Worte besonders als Substrate für
pädagogische Implementationen eigneten; sie ziehen sich in dieser Ära pädagogischer
Aufbruchbewegungen wie ein roter Faden durch Theoriebildung und praktische Reformprojekte.
Textmontage mit 22 Teilen - Marx für alle:

  • ...der „kategorische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist,“
  • „Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist der Mensch selbst.“
  • „...“man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt!“
  • ..“der Mensch die Kette abwerfe, ...Wahrheit des Diesseits zu etablieren,...menschliche Selbstentfremdung entlarven.“
  • „Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren ... ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind.“
  • „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“
  • „Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist.“
  • „Das Verhältnis der Industrie, überhaupt der Welt des Reichtums, zu der politischen Welt ist das Hauptproblem der modernen Zeit.“
  • „Wo also die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation? Antwort: In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten ...welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt ...welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren ... nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Die Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.“
  • „Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ (1)
  • „Wer soll emanzipieren? Wer soll emanzipiert werden? Von welcher Art der Emanzipation handelt es sich? Welche Bedingungen sind im Wesen der verlangten Emanzipation begründet?“
  • Wie ist „das Verhältnis der politischen Emanzipation zur menschlichen Emanzipation“?...„Die politische Emanzipation ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung. Es versteht sich: wir sprechen hier von wirklicher, von praktischer Emanzipation.
  • “Die Freiheit des egoistischen Menschen und die Anerkennung dieser Freiheit ist aber vielmehr die Anerkennung der zügellosen Bewegung der geistigen und materiellen Elemente, welche seinen Lebensinhalt bilden.“
  • „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine „force propres“ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“
  • „Das Geld erniedrigt alle Götter des Menschen - und verwandelt sie in eine Ware. Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an.“
  • „Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit.“(2)
  • Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss....Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.“(These 3)
  • „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.“(These 11) (3)
  • „Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigene Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar.“...“ Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion.“
  • _ Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirischen konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses.“...“Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.“(4)
  • „Die Geschichte tut nichts, sie besitzt keinen ungeheuren Reichtum, sie kämpft keine Kämpfe! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die Geschichte, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre - als ob sie eine aparte Person wäre, - Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.“(5)
  • Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe sind, sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben. Die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit, ihr Verhalten zum Gegenstand ist die Bestätigung der menschlichen Wirklichkeit.“(6)

Diese Textmontage könnte weiter zu einem großflächigen Netz mit verdichteten Knotenpunkten ausgeweitet werden.(7) Mir kommt es hier jedoch entscheidend darauf an, die roten Fäden, sprich: den Reichtum der Anknüpfungspunkte für eine sich selbst als kritisch-emanzipativ verstehende Pädagogik vor Augen zu führen. Unverzichtbare Grundgedanken sind: Neubestimmung des Theorie-Praxis-Verhältnisses, Analyse der ‘verkehrte Welt’ inklusive konstatierbarer Entfremdungserfahrungen, Notwendigkeit von Idealismus- und Ideologiekritik, Emanzipationsidee und praktischer Kampf auf allen gesellschaftlichen Ebenen.
Konsequente Übertragungsleistungen führten zu einem „Konzept einer radikalen
Kritik der bürgerlichen Erziehung“(8) mit eindeutig klassenkämpferischem Habitus.
Als flankierende eigenständige Parallelentwicklung kommt eine grundlegende Kritik „bürgerlicher“ Bildungsökonomie hinzu. Auf der Basis Marxscher Kategorien gilt es die „verkehrten Verhältnisse“, die „Stufenfolge der Mystifikation“ einer staatlichen Bildungsplanung – Bildung als Wachstumsfaktor – grundlegend zu kritisieren und eine veränderte, über sich selbst aufgeklärte Praxis neuer Bildungsökonomie anzustreben.
Selbstverständlich konnten und wollten zahlreiche Akteure keine 1:1- Übersetzungen und Transferleistungen von Marxschen Analysen auf die Pädagogik vornehmen. Das revolutionäre Proletariat mutierte z.B. in die im Emanzipationskampf sich begreifenden Lehrer, Schüler und Eltern. Der ‚totale Mensch mit allen Organen seiner Individualität‘ war der Schüler im ganzheitlichen Lernprozess. Der revolutionäre Klassenkampf wurde zum radikal-reformerischen Schulkampf gegen Autorität, Repression, Indoktrination und Leistungsbeurteilung. Auch Lehrer, Eltern, Schüler waren gleichermaßen Lernende im Erziehungs- und Bildungsprozess; die einen organisierten sich in der ‚pädagogischen Basisgruppe‘, die anderen im ‚Schülerkollektiv‘. Der habituelle Code war jedoch eindeutig: permanente Kritik entfremdeter Verhältnisse, radikal sein, die kapitalistischen Ketten abwerfen, sich emanzipieren von autoritären Charakterstrukturen, von Konsum- und Leistungsterror – auf der Suche nach einer neuen gesellschaftlichen Praxis, neuen Beziehungsmustern und Verhaltensweisen. „Emanzipation“ war der glitzernde Stern, auf den sich (revolutionäre) Theorie und Praxen fokussierten.

Quellen: Marx-Engels-Werke (MEW)
(1) Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 378-391
(2) Zur Judenfrage, MEW 1, S. 347-377
(3) Thesen über Feuerbach, MEW 3, S.5-7
(4) Deutsche Ideologie, MEW 3, S.20 ff.
(5) Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, MEW 2, S. 98
(6) Schriften, Manuskripte, Briefe bis 1844, MEW, Ergänzungsband, S. 539f
(7) z.B. vertiefender Rückgriff auf den vierfachen Entfremdungsbegriff in den ‘Ökonomisch-philosophischen Manuskripten’(Marx 1844, MEW Ergänzungsband, 1. Teil, S.465-588), oder auf den Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis im ‘Kapital’ (MEW 23). Weitere wichtige Stichworte könnten sein: produktive und unproduktive Arbeit, polytechnische Bildung. Bedeutung und Funktion der Wissenschaften (Produktivkräfte).
(8) Vgl. z.B. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Konzept einer radikalen Kritik der bürgerlichen Erziehung, in:
Schaller (Hg.), a.a.O., S. 182 - 214. Nach Schmied-Kowarzik reicht Aufklärung, die an das Individuum appelliert, sein Verhalten zu ändern, nicht mehr aus. Vielmehr sind radikale Kritik der „Systemzwänge“, der herrschenden Verdinglichungsmechanismen in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen, der entfremdeten gesellschaftlichen Praxis dringend notwendig.

In Teil 3 werden einige Konkretisierungen des Emanzipationsinteresses in der pädagogischen Diskussion, auch in der beruflichen Bildung näher vorgestellt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Bildungswirt

Bildungsexperte, Wissenschaftscoach, Publizist, Müßiggänger, Musiker

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