Hilfe, Grass hat ein neues Gedicht. Da muss man doch reagieren!

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Zu später Stunde. SMS vom leitenden Redakteur: Grass hat es wieder getan! Wir müssen was dazu machen! Alle werden was machen.

Freier Autor: Ja, hab's gesehen. Auf SpOn, wieder in der SZ. Online steht es schon.

Leitender Redakteur: Arme SZ. Konnten natürlich nicht ablehnen.

Freier Autor: Vielleicht machen sie es nur online.

Leitender Redakteur: Niemals. Das merkt der doch.

Freier Autor: Sie werden es also morgen auf der Titelseite bringen. Oder auf der Seite 4. Als eine Art Kommentar zur Griechenland-Krise.

Leitender Redakteur: Hm.

Freier Autor: Man könnte schreiben: Mit dem Leitkommentar verhält es sich wie mit Sozialismus in der DDR. Er wird zwar noch eine Weile gebraucht, aber das Endziel ist etwas höheres, edleres, der Kommunismus. Was für die DDR der Kommunismus ist, ist für Grass das Gedicht… So? In diesem Stil?

Leitender Redakteur: Hm. Hm.

Freier Autor: Ist ja nur ein Vorschlag.

Leitender Redakteur: Und wenn man das Gedicht einfach interpretiert?

Freier Autor: "Dem Chaos nah, weil dem Markt nicht gerecht, bist fern Du dem Land, das die Wiege Dir lieh." Meint: Europa soll sich mal darauf besinnen, wo die Wurzeln seiner Kultur liegen, dann würde es mit den Griechen nicht so umgehen. So also?

Leitender Redakteur: Ja so, ungefähr.

Freier Autor: Aber was heißt "weil dem Markt nicht gerecht". Ich könnte ja auch sagen, dass die alten Griechen auch den Markt erfunden haben oder zumindest den Marktplatz, die Agora. Hätten sich also schon bemühen können, ein wenig vernünftiger zu wirtschaften.

Leitender Redakteur: Das geht in die falsche Richtung!

Freier Autor: Oder hier: "Außer Landes jedoch hat dem Krösus verwandtes Gefolge alles, was gülden glänzt gehortet in Deinen Tresoren." Sind reiche Griechen also gar keine Griechen? Und ist ihre Kapitalanlage immer noch die Goldunze? Sag's mir, das ist doch Käse.

Leitender Redakteur: gülden glänzt gehortet, reimt sich einfach schön.

Freier Autor: Gar nicht schön. Das Gedicht erzeugt in mir einen totalen Widerwillen. Statt mit den Griechen zu fühlen, empfinde ich genau umgekehrt. Ich verteidige Europa und kritisiere die Griechen. Tragisch. Das sollte man dem Grass mal sagen. Oder zumindest der SZ.

Leitender Redakteur: Lassen wir es.

Freier Autor: Ich wette, es geht vielen so wie mir. Es muss endlich gesagt werden!

Leitender Redakteur: Komm, Grass wagt wenigstens was. Schreib eine Ode auf das Pathos! "Sauf endlich, sauf! schreien der Kommissare Claqueure, doch zornig gibt Sokrates Dir den Becher randvoll zurück." Das ist stark!

Freier Autor: Nach meiner Kenntnis wurde Sokrates zum Tode verurteilt, weil er die Jugend verdorben hat. Nichts Fiskalisches.

Leitender Redakteur: Und so einer schreibt für das Feuilleton. Geist, mein lieber, hier letzte Strophe: "Geistlos verkümmern wirst Du ohne das Land, dessen Geist Dich, Europa, erdachte." Kannst du auch auf dich beziehen.

Freier Autor: Ich schlage vor, wir schauen morgen mal, was die anderen so schreiben.

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Geschrieben von

Michael Angele

Ressortleiter „Debatte“

Michael Angele, geb. 1964 in der Schweiz, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Via FAZ stolperte er mit einem Bein in den Journalismus, mit dem anderen hing er lange noch als akademischer Mitarbeiter in der Uni. Angele war unter anderem Chefredakteur der netzeitung.de und beim Freitag, für den er seit 2010 arbeitet, auch schon vieles: Kulturchef, stellvertretender Chefredakteur, Chefredakteur. Seit Anfang 2020 verantwortet er das neue Debattenressort. Seine Leidenschaft gilt dem Streit, dem Fußball und der Natur, sowohl der menschlichen als auch der natürlichen.

Michael Angele

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