S21: Im Drogenrausch zum Ermächtigungsgesetz (3)

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Inzwischen scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein, dass sich in Stuttgart die deutsche „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich), die sich nach dem „Dritten Reich“ - und dessen Untergang in einer beispiellosen Katastrophe - einstellte, in einer relativ kleinen, aber dennoch in der Geschichte der BRD so bis dahin nicht gekannten neuen Katastrophe entlädt, in der sich alles, was in der Republik seit ihrer Gründung an entscheidenden Punkten schief lief an einem Ort beispielhaft konzentriert, fokussiert und aufbricht. Die nie wirklich in einen Kompromiss oder eine Balance – oder: einen Gesellschaftsvertrag - überführten Konflikte zwischen Rechtsstaat und Sozialstaat, Kapital und Arbeit, Egoismus und Verantwortung für die Gemeinschaft, Gier und Rücksicht, Macht und Teilhabe sind ungefiltert und mit voller Macht in das Projekt S21 eingeflossen, haben sich dort zu einem explosiven Gemisch gebündelt und drängen auf Explosion. Wie Hitler im Bunker hat sich die herrschende Kaste – diesmal allerdings plus SPD - wieder eingemauert und drängt, getragen von willigem Stimmvieh dem Endsieg oder Untergang entgegen.

Übertrieben und überhöht? Mag sein. Es mag aber auch sein, dass genau solches in einer Art verdrängtem gesellschaftlichen Unterbewussten abläuft, wo unverstellte Rohheit herrscht, und lieber bleibe ich ungelesen, blamiere mich, setze mich der Lächerlichkeit aus als dass ich in einem Moment schweige, wo Geschichte sich zu wiederholen anschickt, die sich nicht wiederholen sollte – auch nicht als provinzielle Farce.

Anders, als die Geschichtsbücher immer noch glauben lassen, wurde die herrschende Kaste, die sich den Faschismus leistete, um sich dort total ausleben zu können, nie besiegt. Sie hat sich hinter den „Nazis“ versteckt, natürlich von nichts gewusst, überhaupt nicht profitiert, lautstark über den Opfern sich selbst bejammert und, während sie noch lautstark „Nie wieder“ intonierte, bereits eifrig an ihrem neuen Weg zur absoluten Macht gearbeitet. Das Stimmvieh, vom Desaster und dem schlechten Gewissen noch benommen und von der Bewältigung des Alltags vollauf in Anspruch genommen, lies sie machen.

Dumm nur: da waren lange Zeit noch andere. Und die hatten den Vorteil, nicht mitgemacht zu haben und nun zu viel zu wissen. Sie hatten als Macht die Moral an ihrer Seite und waren so recht nicht angreifbar. Man konnte ihre Macht begrenzen, man konnte sie – z.B. als „Kommunisten“ oder „Vaterlandsverräter“ - verleumden, sie von den Zentren der Herrschaft fernhalten, sie sich im Hamsterrad der „Vergangenheitsbewältigung“ zu Tode schuften und das Stimmvieh zunehmend nerven lassen, während man selbst zurück zu den alten Fleischtöpfe schlich und nützliche Netzwerke und finanzielle Polster für die Zukunft aufbaute. Aber man wurde die Nervtöter so schnell nicht los, und in den Medien und im Bildungsbürgertum fanden sie hinreichend Resonanz.

So bildete sich jene Spaltung der Gesellschaft, die wir heute in Stuttgart – die Spaltung in Reich und Arm überlagernd - offen zutage treten sehen: auf der einen Seite die herrschende Kaste mit ihren zu gemeinsamen Projekten gebündelten Profit-, Partikular- und Alleinherrschaftsinteressen. Auf der anderen Seite die im Widerstand gegen den Faschismus wurzelnden Teile eines aufgeklärten, an bewährten Werten, Nachhaltigkeit und Gemeinwohl orientierten (Bildungs-)Bürgertums (inklusive der politischen Linken), das sich über die Widerstandsbewegungen gegen Restauration und CDU-Staat, Wiederbewaffnung und atomare Aufrüstung, Verdrängung und Wiedererstarken des Faschismus, 68er-Bewegung, Anti-AKW-Bewegung, Ökobewegung usw. als ständig nervende Minderheit in der (alten) BRD etabliert hat und immer wieder an Punkten, wo die herrschende Kaste – z.B. mit ihren „Großprojekten“ - zum einseitig profitorientierten Durchregieren ansetzte, für Demokratie, Recht, Freiheit, Verantwortung, Rücksicht, Teilhabe und Nachhaltigkeit kämpfte. Einmal als „Gutmenschen“ ein andermal als „Wutbürger“ verunglimpft, kämpfte dieses Bürgertum darum, über kontinuierliche, zähe und niederlagenträchtige Aufklärung aus willfährigem politischem Stimmvieh mündige Bürger zu machen. Und es ist immer wieder gelungen – z.B. in Wyhl, Wackersdorf oder beim Transrapid –, die Profitgier davon abzuhalten, vollends in die Verantwortungslosigkeit durchzumarschieren.

Der bislang letzte Versuch, diesen Trend zu kippen, war der Ausstieg aus dem Atom-Ausstieg im Herbst 2010. Er schien ein Spaziergang zu werden, da die SPD mittlerweile ihre große Tradition als Partei von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit abgestreift hatte wie verschwitzte Unterwäsche und sich als der bessere geschäftsführende Ausschuss des Kapitals zu profilieren sucht(e). Fukushima und die davon beeinflusste Landtagswahl 2011 in Baden-Württemberg war für die herrschende Kaste deshalb der absolute und unerwartete Supergau. In Stuttgart soll deshalb jetzt endgültig Schluss mit aktiv gelebter Demokratie, Aufklärung, Teilhabe und Verantwortlichkeit sein. So und nicht anders ist Heinz Dürrs berühmt-berüchtigte Äußerung von 1995 darüber zu verstehen, wie man es machen müsse. Jetzt will die herrschende Kaste es wissen, koste es was es wolle. Dass und was es kosten wird, hat Karl-Dieter Bodack an anderer Stelle beschrieben. (1)

Und Baden-Württemberg ist nicht zufällig der Ort, wo man zur Entscheidungsschlacht antritt. Hier ist nicht nur die Familie noch „intakt“, sondern auch der konservative Verein, die konservative Kirche, der konservative Filz und der konservative Obrigkeitsstaat, in die sich zwar nicht alle, aber hinreichend viele Bürger bedingungslos eingebunden fühlen. Hier gibt und gab es nie eine Metropole, wo ein starkes, kritisches Bildungsbürgertum Fuß fassen und aufklärerisch wirken konnte. Im Gegenteil: aus diesem Land der Dübel-, Schrauben- und Sägen-Könige flüchtet traditionell, wer immer es kann. Hier gibt es auch keine industrielle Struktur, auf deren Basis sich eine starke Arbeiterklasse herausbilden könnte. Hier gibt es nicht genug soziale Verwerfungen, aus denen Unzufriedenheit mit dem System erwachsen könnte. Und hier gibt es keine Medien, die kritisch, unabhängig und frei im Kopf sind. Und Wohlstand und Sicherheit, die das Leben hier so angenehm machen, sind zur Droge geworden, die die Menschen vernebeln, betäuben und bequem machen. Und so es ist denn auch kein Zufall, dass aus einem der dumpfsten Teile dieses Landes der aktuelle Widerling Europas entstammt: Volker Kauder – wobei ich mich dabei jetzt nicht auf seine Inhalte beziehe, sondern auf seine Wortwahl. (2) Wo, wenn nicht in Baden-Württemberg, sollte also der Durchmarsch des Kapitals in die Katastrophe seinen erfolgreichen Anfang nehmen?

Das wußte die herrschende Kaste für sich zu nutzen. Und im Kampf um Stuttgart 21 nutzte sie es unter Einsatz aller erlaubten, nicht erlaubten, jedenfalls zur Verfügung stehenden Mittel. Kein PR-Trick, keine Vertuschung, keine Lüge, keine Irreführung, kein Vorurteil und Cliché, kein Appell an niedere Instinkte, keine Werbe-Plattheit wurde ausgelassen, kein dazu erforderlicher Euro zweimal umgedreht. Der Wahlkampf im Vorfeld der Volksabstimmung war ein gezielt hervorgerufener und geschürter kollektiver Wahn, wie man in zuletzt im Vorfeld der Machtergreifung durch die Nazis erlebt hatte. Nur, soviel hat man aus der Geschichte tatsächlich gelernt, auf die Nazis verzichtete man diesmal – auch wenn es dadurch zunächst etwas schwieriger und teurer wird. Dafür hatte man diesmal die SPD an der Seite, bei der ich mich mittlerweile polemisch frage, weshalb einige in ihrer baden-württembergischen Katastrophenfiliale eigentlich noch auf die Zusatzbuchstaben „N“ und „A“ verzichten, die zu ihrem Verhalten in Sachen Stuttgart 21 eigentlich doch prima passen würden.

Und damit ein fälliger Seitenhieb auf Walter Steinmeiers Parteitagsrede heute (4.12.2011), in der er vor einer zunehmenden Verachtung der Politik, der Politiker und der Parlamente warnte, während seine „Spitzen“-Genossen bei Stuttgart 21 nichts, aber auch gar nichts unterlassen, was diesem Trend befördert. Sie schrecken nicht einmal davor zurück, ihr Parteimitglied Gönner in der Landtagswahl kaum verklausuliert, zur Wahl der Tunnelparteien zu raten (3). Sie lassen Parteimitglied Rivoir die Mitgenossin Dahlbender u.a. nach Kräften mobben (4). Und sie schrecken auch nicht davor zurück, dass sich Parteimitglied und Gesamtbetriebsratschef bei Daimler, Erich Klemm, anlässlich der Volksabstimmung geradezu vor Lust stöhnend ins Bett der Arbeit- „Geber“ schmeißt, anstatt die für seine Kollegen unverzichtbare Funktions- und Zukunftsfähigkeit des öffentlichen Nahverkehrs zu verteidigen (5). Ja, das versteht man heutzutage unter Arbeitervertreter und Arbeiterpartei. Früher nannte man so was noch Prostitution.

Aber sicher ist sicher und selbst ist der Kapitalist:

Gut zwei Wochen vor der Volksabstimmung über Stuttgart 21 machen die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände in Baden-Württemberg mobil. Mit einem hunderttausendfach verteilten Flugblatt wollen sie die Beschäftigten ihrer Mitgliedsbetriebe dazu ermuntern, an dem Plebiszit teilzunehmen. Der Aufruf …..erhebt das Flugblatt den Anspruch, die Positionen neutral darzustellen, übernimmt aber überwiegend Argumente der Projektbefürworter. Erarbeitet wurde der "Flyer" - so der offizielle Begriff - vom Verband der baden-württembergischen Bauwirtschaft.“(6)

Und der Erfolg gibt der herrschenden Kaste plus SPD recht: das gewünschte Ermächtigungsgesetz zum Durchmarsch bei „Großprojekten“ ist mehrheitlich genehmigt. Allem Demokratiegeschwätz und all den vergifteten Beileids-Komplimenten an die Stuttgarter Bürgerbewegung zum Trotz, ist damit der bürgerliche Widerstand in der Bundesrepublik gegen die Alleinherrschaft des Kapitals insgesamt in einer Situation gebrochen worden, in der er objektiv so nahe am Erfolg war, wie nie zuvor in seiner Geschichte. Es wird in Zukunft – sofern die Verschuldung überhaupt noch irgendetwas zulässt – als Lehre daraus nichts weiter als eine als Teilhabe geschminkte, optimierte und in der „Volksabstimmung“ in einem breit angelegten Feldversuch bereits erfolgreich getestete „Kommunikation“ von oben geben. Eine politische Opposition, die irgendwelche Aussichten auf Einfluss auf Entscheidungen hätte, ist nicht in Sicht. Freie, unabhängige und kritisch kontrollierende Medien auch nicht. Was als Auf- und Durchbruch erschien, hat sich als Fata Morgana erwiesen. Wie schon 68. Es herrscht wieder bleierne Stille im Land. Und als ob es dafür noch eines Symboles bedürfte, hat das Stuttgarter Aktionsbündnis, das für heute, 4.12.2011, zu einem „Großen Ratschlag“ ins Stuttgarter Rathaus gerufen hatte, als ersten Schritt die eigene Transparenz und Demokratie abgeschaltet. Presse und fluegel.tv dürfen nicht live berichten, sondern – wie gehabt im System - erst hinterher. Zensiert?

Übrig bleiben die Parkschützer, zu denen ich mich hiermit endlich auch offiziell bekennen möchte. Die Notwendigkeit, meine Parteilichkeit irgendwie noch einzugrenzen sehe ich im Moment nicht.

Dieser Text war nicht vorgesehen. Er ergab sich als Konsequenz aus dem Beitrag von Karl-Dieter Bodack vom 04.12.2011. Der ursprünglich als Teil 3 vorgesehene Text wird als Teil 4 nachgereicht.

(1)

www.bei-abriss-aufstand.de/2011/11/29/%E2%80%9Estuttgart-21%E2%80%9C-scheitert-in-sechs-problemfeldern/

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/s21-resuemee-des-stuttgarter-desasters-von-prof-karl-dieter-bodack-

(2)

www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,797945,00.html

(3)

www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.stuttgart-21-ulms-spd-ob-wirbt-fuer-wahl-der-cdu.f6821000-3c63-4a96-bd60-5b09da7dbbe5.html

(4)

www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2011/09/drama-an-der-donau/

(5)

gewerkschaftergegens21.de/wir/kundgebung

(6)

www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgart-21-wirtschaftsverbaende-trommeln-fuer-plebiszit.5998148b-56bd-4a92-ad31-7f052d889d3f.html

Die vorausgegangenen Teile dieses Beitrags finden sich hier:

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/s21-im-drogenrausch-zum-ermaechtigungsgesetz-1

www.freitag.de/community/blogs/seriousguy47/s21-im-drogenrausch-zum-ermaechtigungsgesetz-2

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Geschrieben von

seriousguy47

Anglophiler Pensionär und Flüchtlingsbetreuer aus Stuttgart.

Wehrdienst, Studium ( Anglistik, Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Sozialpädagogik) , Praktikum ( Primärtherapie), Lehramt, Flüchtlingsbetreuung

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