Im Jahr 1846 schrieb Friedrich Engels seinem Freund Karl Marx einen Brief nach Brüssel, in dem er ihm von Pariser Prostituierten vorschwärmt und ihn auffordert, er müsse unbedingt mal wieder aus dem langweiligen Brüssel zu ihm kommen, um sich ein wenig zu amüsieren. Das Leben des marxistischen Fabrikbesitzers Friedrich Engels war voller Widersprüche, insbesondere, wenn es um Frauen ging. Als Sozialist verdammte er die Inanspruchnahme der Prostitution als die greifbarste Form der Ausbeutung des Proletariats durch die Bourgeoisie, nahm auf der anderen Seite aber regelmäßig begeistert ihre Dienste in Anspruch. Er forderte die Gleichberechtigung von Frauen, konnte aber die Gesellschaft gebildeter Frauen nicht ertragen. Engels war der intellektuelle Archi
Kultur : Der Kommunist im Gehrock
Kann man die Prostitution geißeln und gleichzeitig ihre Dienste in Anspruch nehmen? Friedrich Engels konnte. Tristram Hunt über den Freier und Frauenbefreier Engels
Von
Tristam Hunt
Übersetzung: Holger Hutt
chitekt des Arbeiterbewegungs-Feminismus und gleichzeitig ein altmodischer Sexist.Heute fällt es uns schwerer denn je, privates Verhalten und philosophisches Erbe voneinander zu trennen. Werfen wir aber beides in einen Topf, riskieren wir, einen der wichtigsten modernen Gender- und Familientheoretiker abzutun.Engels Bedeutung geht auf eine heutzutage wenig gelesene Schrift aus den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zurück: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Der Text fordert, dem weiblichen Akt der Reproduktion müsse die gleiche Bedeutung beigemessen werden wie der Produktion der materiellen Lebensgrundlagen. Eine zu jener Zeit in und außerhalb der Arbeiterbewegung unerhörte Aufwertung der Rolle und Funktion der Frau.FamilienblütenSie ist bei Engels Teil eines umfassenderen Versuches, den Aufstieg und Fall weiblicher Macht in den westlichen Gesellschaften nachzuzeichnen. Nach jahrelangem Studium der Anthropologie und Frühgeschichte kam er zu dem Schluss, dass in vorgeschichtlichen Zeiten aufgrund der promiskuösen Clan- bzw. Familienstrukturen die Abstammung eines Kindes mit Gewissheit nur anhand der mütterlichen Linie zurückverfolgt werden konnte. Infolgedessen genossen Frauen großen Respekt und besaßen eine wesentlich größere gesellschaftliche Autorität als zu späteren Zeiten.Aber die Familienstrukturen veränderten sich über die Jahrhunderte hinweg gewaltig. Mit der Entwicklung der Produktionsverhältnisse von der Wildheit über die Barbarei bis hin zur Zivilisation entwickelten sich auch die Familienverhältnisse von weiteren Formen der Blutsverwandtschaft hin zum Modell der bürgerlichen Kleinfamilie Mann – Frau – zwei Kinder.Mit dem Privateigentum entstanden die ersten Vererbungsmodelle. Um ihren Besitz an ihre biologischen Erben weitergeben zu können, verlangten die Väter nun die Gewissheit ihrer Vaterschaft und beschränkten hierfür die weibliche Autonomie erheblich. „Der Umsturz des Mutterrechts war die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts. Der Mann ergriff das Steuer auch im Hause, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kinderzeugung.“Die Unterdrückung der Frau durch den Mann ist also historisch gewachsen und gesellschaftlich bedingt. In urkommunistischen Gemeinschaften waren die Frauen nach Engels frei und ehrbar. Mit der Auflösung dieser Gesellschaftsformen begann die immer stärkere Unterdrückung der Frau. Mit dieser Geschichte der Diskriminierung war der Beweis erbracht, dass der männliche Chauvinismus nicht unveränderlich ist. Die Ungleichheit ist ein Produkt der historischen Entwicklungsstufe der ökonomischen Verhältnisse und keine biologische Tatsache.Engels wurde tagtäglich Zeuge dieser Ungleichheit. Die Kultur der mittleren viktorianischen Epoche machte aus der familiären Kleinstform geradezu einen Fetisch, wie sich an der hoffnungslos kleinbürgerlichen Monarchie von Viktoria und Albert leicht ersehen lässt. „Auf welcher Grundlage basiert die gegenwärtige, die bürgerliche Familie?“, hatten Marx und Engels schon 1848 im Kommunistischen Mannifest gefragt. „Auf dem Kapital, auf dem Privaterwerb. Vollständig entwickelt existiert sie nur für die Bourgeoisie; aber sie findet ihre Ergänzung in der erzwungenen Familienlosigkeit der Proletarier und der öffentlichen Prostitution.“Nach der proletarischen Revolution würde dies sich ändern, waren Marx und Engels sich sicher. Wenn der vererbbare Reichtum erst einmal abgeschafft sein und in Gemeinschaftsbesitz rücküberführt sein würde, wäre der restriktiven Monogamie die ökonomische Grundlage entzogen und sie würde infolgedessen von selbst verschwinden. Wahre Gleichheit zwischen Männern und Frauen könne nur Realität werden, wenn die Ausbeutung beider durch das Kapital aufgehoben werde, erklärte Engels.Mit der Abschaffung des Privateigentums würde eine wahre Liebesheirat erst möglich, die Menschen würden aus „wahrer Zuneigung“ heiraten und nicht des Geldes wegen. Ein gemeinschaftliches System der Kindeserziehung würde die folgende Generation in diesem Sinne erziehen. Die Familie würde sich in ein postkapitalistisches Stadium des sexuellen und familiären Kommunismus weiterentwicklen.WirkungsgeschichteIn den neunzehnhundertzwanziger Jahren versuchte der sowjetische Volkskommissar für das Bildungswesen Anatoli Lunacharski, eine vulgarisierte Version der Engelschen Überlegungen in die Praxis umzusetzen. „Für uns besteht das Problem nun darin, uns der Hausarbeit zu entledigen und die Frauen von der Kindererziehung zu befreien“, erklärte er. Viele realsozialistische Länder unternahmen im zwanzigsten Jahrhundert den Versuch, die Grundlagen der Ungleichheit durch die Eingliederungen der Frauen in die Arbeitswelt, die Vergesellschaftung der Familie sowie die Sicherstellung gleicher Bildungschancen zu entfernen. Dies geschah nirgends mit mehr Entschlossenheit und Nachdruck als in China, wo, nach Aussage eines Soziologen in den Achtzigern, „jeder Bürger das Gesicht Engels`“ kenne. Von ihren Anfängen an verschrieb sich die Volksrepublik China, zumindest theoretisch, den Rechten der Frauen.Im Westen inspirierte Engels zahllose feministische Sozialisten. Kate Millett führte in ihrem Buch Theorie der Sexualpolitik (Sexual Politics) von 1970 auf, wie die Historisierung von Ehe und Familie, also die Erkenntnis, dass „diese Institutionen demselben Entwicklungsprozess unterworfen sind wie andere gesellschaftliche Phänomene auch ... das Allerheiligste für Kritik, Analyse und sogar radikaler Neuorganisation zugänglich machte ... Die radikale Schlussfolgerung der Engelschen Analyse besteht darin, dass die Familie, wie er sie kannte, verschwinden muss.“Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Engels hätte die Gesellschaft Milletts nur schwer ertragen. Er hatte nämlich keine Zeit für „affektierte, gebildete“ Damen, egal, ob es sich um die Theosophin Annie Besant oder die Frauenrechtlerin Gertrud Guillaume-Schack handelte. Den Kampf für das Frauenwahlrecht betrachtet Engels als typisch kleinbürgerliche Zerstreuung.Seine Lebensgefährtinnen waren zwei analphabetische Schwestern, zuerst Mary, dann Lizzy Burns mit „authentisch irisch-proletarischem Blut“, die er aus der Fabrik seines Vaters zu sich nahm. Neben den Burns-Schwestern gab es eine ganze Reihe französischer Prostituierter, Affären und sogar der Vorwurf einer Vergewaltigung (die Engels wutentbrannt zurückwies).Er kümmerte sich, als sie im Sterben lagen, sowohl um Mary als auch um Lizzy, und heiratete trotz seiner Aversion gegen die „bürgerliche Verlogenheit der Ehe“ die letztere sogar noch auf ihrem Totenbett, um dem letzten Wunsch einer alten irischen Katholikin zu entsprechen. Er unterstützte Freundinnen bei Scheidungsverhandlungen und stimmte bei den Wahlen zum Aufsichtsrat der Schule für Frauen, weil „die Damen sich hier dadurch hervortun, dass sie wenig reden und viel arbeiten – im Durchschnitt soviel wie drei Männer.“Nur wenige große Denker sind in der Lage, ihre Ideale auch in der Praxis vorzuleben. Engels war in dieser Hinsicht ganz besonders widersprüchlich. Man kann aber beides nicht gegeneinander ausspielen. Die Philosophie existiert und wirkt unabhängig von der Person. Und wenn sein Leben uns auch heute nicht mehr besonders fortschrittlich erscheinen mag, so sind seine Einsichten in die ökonomischen Grundlagen geschlechtsspezifischer Ungleichheit in Zeiten, in denen Frauen auch in der EU im Durchschnitt noch ein Viertel weniger verdienen als Männer und Kindererziehung und Hausarbeit noch nicht gleichberechtigt zwischen den Geschlechtern verteilt ist, so relevant wie eh und je.