Die Onleihe

Kulturkommentar Den deutschen Bibliotheken geht es nach einem aktuellen Bericht sehr schlecht. Der Medienwandel könnte jedoch die Rettung bringen

Wenn in Roland Emmerichs Film The Day After Tomorrow eine Flutwelle New York überschwemmt, ist die Public Library an der 5th Avenue selbstverständlicher Zufluchtsort für Obdachlose, Banker, Touristen, Studenten und einen Hund. Die Wassermassen und der folgende Temperatursturz können dem alten Gebäude nichts anhaben.

Den deutschen Bibliotheken dagegen geht es schlecht, wie man in einem jüngst vorgestellten Bericht zur Lage der Bibliotheken 2011 erfahren konnte. Seit Jahren müssen sie mit rückläufigen Einnahmen leben: In knapp einem Drittel „werden Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen realisiert“, bei weiteren 17 Prozent sind Einsparungen geplant. Stellenstreichungen, verkürzte Öffnungszeiten, ein schrumpfender Erwerbungsetat sind die Folgen.

Dabei sammeln Bibliotheken schon lange nicht mehr nur Bücher und machen sie ihren Benutzern zugänglich. Seit den siebziger Jahren verstehen sie sich als Informationsdienstleister, die Zugang ebenso zu den jeweils neuen Medien ermöglichen. Das ist löblich und verständlich, aber womöglich auch Teil des Problems.

Immer wieder belegen Untersuchungen, dass beinahe die Hälfte der Bücher in Bibliotheken nie genutzt wird. Dies mag bei einer DVD oder einem Computerspiel anders sein. Allerdings: Wer leiht heute Langspielplatten aus? Wer Telekollegs auf VHS- oder gar Betamax-Kassetten, und wer nutzt Mikrofiche-Publikationen? Was tun mit Floppy-Disks, für die es keine Hardware gibt, und was mit Software, die nicht mehr mit den aktuellen Betriebssystemen kompatibel ist? Pippi Langstrumpf im blauen Oetinger-Band lässt sich, pfleglich behandelt, auch nach einem halben Jahrhundert noch lesen, eine ungleich teurere CD-ROM ist dagegen meist schon nach wenigen Jahren nicht mehr zu gebrauchen.

Das Kerngeschäft

Hier könnte sich nun im jüngsten Medienwandel eine Lösung eröffnen. Denn erstmals lassen sich E-Books, Zeitschriften, Datenbanken oder ­Archive zentral anbieten und dezentral nutzen. Die Deutsche Digitale Bibliothek soll ab 2012 das „kulturelle Erbe“ online verfügbar machen, und im ­Frühjahr dieses Jahres hat die Wissenschaftskonferenz des Bundes und der Länder ein „Gesamtkonzept für die ­Informationsinfrastruktur in Deutschland“ verabschiedet, das auf Open ­Access setzt, also den unentgeltlichen Zugang zu relevanten wissenschaft­lichen Publikationen. Selbst die Stadt­bibliotheken forcieren die „Onleihe“. Angemeldete Bibliotheksnutzer können digitale Bücher, aber auch Filme, Musik und E-Paper großer Zeitungen unentgeltlich ausleihen.

Für die stationären Bibliotheken ergibt sich damit die Chance, das Kerngeschäft, das gedruckte Buch und dessen Vermittlung, wieder ins Zentrum zu stellen. Darauf gilt es zu bestehen, und das gilt es durchzusetzen, auch wenn findige Stadtoberhäupter auf die Idee kommen sollten, analoge Bibliotheken angesichts der digitalen Möglichkeiten gleich ganz abzuschaffen.

Die in The Day After Tomorrow Eingeschlossenen überstehen die Katastrophe übrigens, weil sie mit Büchern heizen, das Papier unter ihre Kleidung stopfen, weil sie lesen und sich Geschichten erzählen, und weil sie trotz Stromausfalls einem medizinischen Handbuch lebensrettende Informationen entnehmen.




David Oels lehrt am Institut für Buchwissenschaft in Mainz

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