Alain Keler ist ein etablierter Profifotograf, als er im Juli 1999 erstmals eine Reportagereise zu den Roma unternimmt. Im Kosovo dokumentiert er ihre Vertreibung durch albanische Nationalisten kurz nach dem Sieg der Nato über Serbien. Keler betritt ein Flüchtlingslager, sieht gebrandschatzte Häuser und trifft erschöpfte Familien auf einem fast verlassenen Bahnhof.
Seither ist er immer tiefer in die Welt dieser bedrängten Minderheit eingetaucht. Er hat quer durch Europa ihre oft elenden Siedlungen besucht und dort neben der Misere auch Momente voller Lebensfreude fotografisch festgehalten. Auf diesen Reisen hat er Material für einen beeindruckenden Reportage-Band gewonnen, der auch formal heraussticht. Kelers gemeinsame Veröffentlichung mit dem Zeichner Em
eichner Emmanuel Guibert und dem Szenaristen Frédéric Lemercier präsentiert sich deutlich ungewöhnlicher als ein Fotobuch mit Begleittext.Reisen zu den Roma ist eine Comic-Reportage im erweiterten Sinn. Anders als bei Joe Sacco, der mit seinen Arbeiten über Palästina und Bosnien dieses Genre begründet hat, wird hier nicht bloß eine journalistische Recherche in Zeichnungen übersetzt. Vielmehr legen die Autoren ein Hybrid aus Comic, dokumentarischer Fotografie und engagiertem Sachbuch vor.Alle Freiheiten genutztZwischen den Buchdeckeln trifft man auf Fotostrecken wie in einem Bildband und findet ein Vor- und Nachwort des Fotografen mit den sprachlichen Qualitäten eines guten Essays. Auf den meisten Seiten aber – und das ist das Spektakuläre an dieser Arbeit – stehen Kelers Aufnahmen und Texte im Wechsel mit Zeichnungen von Guibert. Das alles fügt sich zu einem überraschend harmonischen Gesamteindruck. Guiberts reduzierter Strich im Stil der Ligne Claire versucht erst gar nicht, die Fotos zu übertrumpfen. Seine Zeichnungen stellen sich in ihren Dienst, ergänzen das Gezeigte und erweitern es zu kurzen Geschichten. Auch Lemerciers stimmige Farbgebung, die meist auf gedeckte Töne setzt, lässt die überwiegend schwarz-weißen Aufnahmen gut zur Entfaltung kommen.Bei der Komposition der Seiten nutzen Guibert und Lemercier alle Freiheiten, die der ausführliche Text ihnen gewährt. Mal steht auf einer Doppelseite eine Fotoserie für sich, mal füllt eine großformatige Zeichnung den Raum. Zugute kommen dem Duo seine Erfahrungen bei einem ebenfalls überaus gelungenen Vorgängerprojekt. Die dreibändige Serie Der Fotograf, auf Deutsch zwischen 2008 und 2009 erschienen, erzählt auf gleiche Weise von einer Reportagereise. Der Fotojournalist Didier Lefevre begleitete 1986 ein Team von Ärzte ohne Grenzen nach Afghanistan. Seine Aufnahmen aus dem Hinterland des Konflikts mit der Sowjetunion boten seltene Einblicke in ein hartes Leben inmitten der Bergwelt der nördlichen Provinzen. Die Comic-Künstler fügten sie zu einer spannenden Geschichte über die beschwerliche und nicht selten gefährliche Reise Lefevres von Pakistan in den Krieg und zurück. Derselbe Lefèvre arbeitete 1999 mit Alain Keler im Kosovo und machte ihn später mit Guibert und Lemercier bekannt.EpisodenAnders als Der Fotograf bietet Reisen zu den Roma keine durchgängige Erzählung. Der Band gliedert sich in Episoden, die Momentaufnahmen aus verschiedenen europäischen Ländern abbilden. Keler berichtet von Besuchen in Serbien, Tschechien, Italien, der Slowakei und in der Pariser Banlieue zwischen 2008 und 2010. Jedes Kapitel fügt dem Thema eine neue Facette hinzu, so dass am Ende ein Gesamtbild von der Lage der Roma entsteht.So begegnet Keler in Serbien einer Gruppe von etwa 300 Roma, die sieben Jahre völlig auf sich gestellt in einer Waldsiedlung überlebt haben, ohne Zugang zu Schulen und medizinischer Versorgung. In Tschechien fotografiert er eine Neonazi-Demonstration, die mitten durch ein Roma-Viertel zieht und besucht eine Familie, deren Kleinkind bei einem rassistisch motivierten Anschlag schwerste Verbrennungen erlitten hat. Und in Italien trifft Keler auf eine fast dreißig Jahre alte Barackensiedlung, die er als Ghetto beschreibt. Auf der einen Seite wird sie von einem Bahndamm begrenzt, auf der anderen von einer vier Meter hohen Mauer. Mit ihr wollen sich die Anwohner vor dem Anblick der Roma schützen.Je weiter Kelers Reisen durch Europa voranschreiten, desto deutlicher entsteht ein für diesen Kontinent schmachvolles Bild. Überall, wo der Reporter Station macht, trifft er auf Roma, die in unbeschreiblicher Armut leben und denen bestenfalls mit Ignoranz und Vernachlässigung begegnet wird. Häufig schlagen ihnen jedoch unverhüllte Diskriminierung und immer öfter blanker Hass entgegen. Offenkundig zeigt sich das bei Rechtsextremen, die wie in Ungarn paramilitärisch durch Roma-Viertel marschieren und auch vor gezieltem Mord nicht Halt machen. Aber das Ressentiment reicht bis weit in die Mitte der Gesellschaft. Ausführlich schildert Keler, wie die französische Regierung 2010 massenhaft Roma, auch solche mit französischer Staatsbürgerschaft, nach Rumänien abschieben lässt. Noch während die Unerwünschten von der Polizei abgeführt werden, ebnen Bulldozer ihre Quartiere ein, samt allen zurückgebliebenen Habseligkeiten.Fallende DistanzKelers Entsetzen über solche Vorgänge trägt auch einen autobiografischen Zug. Seine Großeltern waren 1905 als polnische Juden nach Frankreich eingewandert und starben in Auschwitz und Buchenwald, auch eine seiner Tanten wurde im KZ ermordet. Vor dem Zweiten Weltkrieg, schreibt Keler, waren die Juden die größte Minderheit in Europa, heute sind es die Roma. Zwölf bis 15 Millionen von ihnen leben laut einer in dem Band genannten Schätzung auf dem Kontinent, davon sieben bis neun Millionen in der EU. Der Reporter setzt die Lage der Juden in den dreißiger Jahren nicht mit der Situation der Roma heute gleich. Er erinnert „das politische Europa“ lediglich an „seine Berufung“: „Keine Lager mehr auf europäischem Boden“.Seine Reisen zu den Roma verändern Keler. Er lässt seine professionelle Distanz zusehends fallen und ergreift Partei. Zugleich zeugen seine Texte von einer beständigen Reflektion seiner Rolle als professioneller Fotograf und vergleichsweise privilegierter Beobachter. Das schützt ihn vor Romantisierung und Schwarz-Weiß-Malerei. Keler zeigt Probleme wie Alkoholismus und Bildungsferne ebenso wie Momente des Glücks bei Musik oder Fußball. Ausführlich würdigt er die verschiedenen Solidaritäts-Initiativen in Europa, die einige Verbesserungen für die Roma erreichen konnten.Getragen wird das Buch von Alain Kelers Interesse an den Menschen, denen er begegnet. Er sieht sie als Individuen und nicht als anonyme Angehörige einer bedauernswerten Minderheit oder gar als Objekte für den voyeuristischen Schnappschuss. Dieser Blick prägt die Fotos dieser inhaltlich wie formal herausragenden Comic-Reportage.