FREITAG: Sie haben vor einem Jahr die NATO-Luftangriffe gegen Jugoslawien strikt abgelehnt, fühlen Sie sich durch die Entwicklung seither im Kosovo bestätigt?
ANNELIE BUNTENBACH: Die NATO hat jedenfalls die von ihr formulierten Ziele nicht erreicht, weder konnte sie die sogenannte humanitäre Katastrophe - sprich: die Vertreibungspolitik MilosÂevic´s - verhindern, noch hat sie die Region stabilisiert. Auch die Vertreibung der nichtalbanischen Bevölkerung, die es nach dem Ende der Bombardierung gab, wurde von der NATO nicht aufgehalten. Im Januar 2000 hatten laut UNHCR 230.000 Serben, Roma und andere die Krisenprovinz verlassen. Es heißt, dieser Vertreibungspolitik liege Rache zugrunde - aus Rache brennt man vielleicht zwei oder drei Häuser ab, ab
Häuser ab, aber zündet nicht jede Nacht die Behausungen von Serben an. Nein, die UÇK will einen rein albanischen Kosovo und damit die Trennung von Jugoslawien durchsetzen. Wir sehen uns daher weiterhin einem ungemein virulenten Konfliktherd gegenüber.Nun wird die heikle Situation im Kosovo damit erklärt, die UN-Verwaltung in Pristina sei zu schlecht disponiert, die Militäreinheiten reichten nicht. Wird von den KFOR-Staaten zu wenig investiert?Es liegt nicht daran, dass vielleicht zu wenig Militär im Kosovo wäre. Was fehlt, ist der Aufbau einer Zivilgesellschaft. Und was besonders fehlt, ist eine Politik der UNO, die der UÇK und ihrer Vertreibungspolitik eindeutig Grenzen setzt oder setzen will. Wäre die NATO beim Aufbau der Zivilgesellschaft genauso engagiert, wie bei der Militärintervention vor einem Jahr, dürfte vieles anders sein.Dem neuen Menschenrechts-Interventionismus kann diese unbefriedigende Lage offenbar nichts anhaben ...Diese zentrale Auseinandersetzung steht immer noch aus. Dieser Kriegs hat keineswegs den Menschenrechten zum Durchbruch verholfen - so sind sie meines Erachtens auch nicht durchzusetzen. Krieg ist zuallererst eine Verletzung von Menschenrechten, ein toter Zivilist eben kein Kollateralschaden. Beim Schutz von Menschenrechten sind nach meiner Auffassung zivile Mittel ganz entscheidend.... doch oft nicht ausreichend.Ich sage, längst nicht ausgeschöpft. Bei Menschenrechtsverletzungen müssen klar die Staaten benannt werden, in denen sie stattfinden. Das gilt vor allem für Lageberichte des Auswärtigen Amtes. Zum zweiten dürfen Flüchtlinge nicht dorthin abgeschoben werden, wo ihnen Folter oder gar Tod drohen. Das gilt heute nicht nur für Serben und Roma in Bezug auf den Kosovo, das gilt auch für Kurden, die in die Türkei zurückgeschickt werden. Und schließlich darf in solche Regionen keinerlei Waffenexport erlaubt sein.Wie bewerten Sie die Absicht, innerhalb der EU eine militärische Komponente zu etablieren, weil der Krieg vor einem Jahr gezeigt habe, dass man sich von den USA emanzipieren müsse?Ich würde es begrüßen, wenn Europa bei der zivilen Konfliktlösung eigenständiger wäre. Statt dessen wird Krieg als Konstituierungsakt des neuen Europas betrachtet. Diese Art Emanzipation setzt eine Rüstungsspirale in Bewegung, bei der nicht etwa die USA weniger aufrüsten, sondern Europa mehr. Frankreich fordert ja bereits, jedes EU-Land solle 0,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in den Rüstungssektor stecken - Dimensionen, von denen die Entwicklungshilfe nur träumen kann.Warum werden Sie als Regierungspartei dagegen nicht spürbarer aktiv?Zunächst glaube ich, dass die Bundesregierung durchaus bei der zivilen Konfliktprävention versucht, Akzente zu setzen.Aber leider scheint sich Rot-Grün nicht der erwähnten Aufrüstungsspirale entziehen zu wollen. Fischer setzt auf die europäische Verteidigungsidentität, Scharping strebt einen erhöhten Rüstungsetat an und will stärker in europäischer Richtung investieren, andere - in der grünen Fraktion und der Regierung - wollen das nicht. Die Auseinandersetzung darüber steht noch aus.Eine Auseinandersetzung, bei der sich - wie man Ihrem Karlsruher Parteitag entnehmen konnte - nicht die Koalitionsfrage stellt. Die hätte man mit Fug und Recht im März 1999 stellen müssen, als der Krieg begann. Wenn damals die Ablehnung einer deutschen Beteiligung mit der SPD nicht möglich gewesen wäre, dann hätte ich da einen Ausstieg aus der Koalition in Kauf genommen. Aber das hat der Bielefelder Parteitag anders gewollt. Nach dieser Mehrheitsentscheidung würde es mich wundern, wenn jetzt der Streit um Rüstungsfragen ernstlich zur Koalitionsfrage würde - obwohl ich das selbst für richtig hielte, wie ein großer Teil des Karlsruher Parteitages auch.Wenn deutsche Panzer in die Türkei gehen, stellt sich also nicht die Koalitionsfrage?Wenn es um die Lieferung von Waffen in Staaten geht, in denen wie im Fall der Türkei oder der Arabischen Emiraten Menschenrechte verletzt werden, kann es aus meiner Sicht für Rot-Grün - zumindest aber für die Grünen - nur eine Entscheidung geben: Nein. Einerseits wird ein Krieg befürwortet, um wie im Kosovo Menschenrechte durchzusetzen, andererseits werden Waffen an Staaten geliefert, in denen Menschenrechte verletzt werden, das ist ein Widerspruch, der für die Grüne Partei und auch für die Mehrheit in der grünen Fraktion sehr brisant ist. Es geht nämlich um die eigene Glaubwürdigkeit.Das Gespräch führte LutzVerbrecherische Energie gegen zivile ZieleWährend ihres 78 Tage dauernden Luftkrieges gegen Jugoslawien seien etwa 500 Zivilisten ums Leben gekommen, stellt Human Rights Watch in einem Anfang März veröffentlichten Report fest. Nach Auffassung der Menschenrechtsorganisation wurde mit den Operationen der NATO gegen internationales humanitäres Recht verstoßen, wie es sich in den Genfer Konventionen von 1949 niedergelegt findet. Diese Völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarungen sind zwar von allen europäischen NATO-Staaten ratifiziert worden - nicht jedoch von den USA. Wir dokumentieren im folgenden nur die »Kollateralschäden«, die größtenteils auch von der NATO bei ihren Pressekonferenzen während des Krieges zugegeben wurde.5. April 1999In der serbischen Stadt Aleksinac´ wird ein Straßenzug durch NATO-Raketen ausgelöscht, 17 Bewohner kommen dabei uns Leben.7. April 1999In Pristina sterben bei Angriffen auf ein Treibstofflager zehn Zivilisten.12. April 1999 Ein NATO-Jet beschießt bei Leskovac eine Bahnstrecke und trifft einen Zug, der eine Brücke überquert. Aus den Waggons werden 55 Todesopfern geborgen.14. April 1999 NATO-Flugzeuge greifen Flüchtlingstrecks bei Meha und Djakovica im Kosovo an, wobei 75 Menschen getötet werden.23. April 1999Gezielter Angriff auf das Staatsfernsehen RTS in Belgrad, den 16 Mitarbeiter der Frühschicht nicht überleben.28. April 1999Bei Bombentreffern in Surdulica sterben 16 Zivilisten in den Trümmern ihrer Häuser.1. Mai 1999 Mit der Bombardierung einer Brücke nahe Luzane im Kosovo wird ein Bus getroffen, 47 Insassen überleben diesen Angriff nicht.Mai 1999Splitterbomben der NATO treffen in Nis Hospital und Marktplatz, 15 Zivilisten erleiden tödliche Verletzungen.8. Mai 1999 In Belgrad treffen Raketen die Botschaft Chinas, drei Menschen werden getötet.13. Mai 1999 Nach der Beschießung eines Gehöfts bei Korisa durch NATO-Jets an der jugoslawisch-albanischen Grenze sind 87 Flüchtlinge tot.20. Mai 1999 Eine fehlgeleitete NATO-Bombe trifft ein Belgrader Krankenhaus und tötet drei Personen.21. Mai 1999NATO-Raketen schlagen im Gefängnis Istik im Kosovo ein, zehn Tote.22. Mai 1999Ein versehentlicher NATO-Angriff auf ein UÇK-Camp in Kosare fordert sieben Todesopfer.28. Mai 1999 Bei einem massiven Luftangriff der NATO auf den Flughafen von Pristina, Munitions- und Militärdepots sowie Rundfunk- und Fernsehstationen kommen neun Zivilisten ums Leben.30. Mai 1999 Beschuss einer Brücke in Varvarin nahe Krusevac, es werden elf Tote gezählt.31. Mai 1999Bei einem Raketeneinschlag in einem Wohnhaus in Novi Pazar kommen 23 Menschen um. Im Unterschied zu diesen Angaben sprach die Belgrader Regierung nach Aussetzung der Luftangriffe am 10. Juni 1999 von über 2.000 getöteten Zivilisten und mehr als 6.000 Verletzten. Zudem seien 34 Brücken, 12 Eisenbahnstrecken, 20 Straßen und acht Flugplätze sowie 100 Gebäude, darunter Ministerien, Kasernen, Fabrikanlagen und Fernsehstationen zerstört worden. Eine Bekanntgabe der Zahl getöteter Armee-Angehöriger gab es nicht.
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