Jürgen Heiducoff, früherer militärpolitischer Berater der deutschen Botschaft in Kabul, fordert einen Strategiewechsel in Afghanistan und einen Teilrückzug der Truppen
Freitag.de: Nach dem Luftangriff auf zwei Tanklaster mit Dutzenden von Toten ist scharfe Kritik am Vorgehen der Bundeswehr laut geworden. Der Verteidigungsminister sprach von einem unvermeidlichen Vorgang. Ist das die „neue Strategie“ am Hindukusch, von der zuletzt so oft die Rede war?
Jürgen Heiducoff: Es ist im Rückblick für Nichtbeteiligte leicht, Kritik an einem einzelnen taktischen Entschluss zu üben. Unsere Soldaten erfüllen unter Einsatz von Leben und Gesundheit einen Auftrag unter extrem schwierigen Bedingungen. Die Kommandeure tragen bei jedem Entschluss die Verantwortung für ihre Soldaten. Wenn schon Kritik, dann an den Entscheidungen der Politiker. Sie sagen, wir führen keinen Krieg in Afghanistan, sondern erfüllen einen Stabili
, sondern erfüllen einen Stabilisierungsauftrag. Es stellt sich die Frage, warum die Hauptlast des Auftrages den Militärs zugeteilt wurde. Dieser Konflikt ist mit militärischen Mitteln nicht lösbar! Soldaten sind vorrangig ausgerüstet und ausgebildet zur Bekämpfung gegnerischer Kräfte. Sie verfügen über Waffen mit hoher Vernichtungskraft, die im Einsatz nicht nur der Abschreckung dienen. Es waren politische Entscheidungen, die uns Militärs einem asymmetrischen Gegner entgegen stellen und die uns mit einem zur Aufstandsbewegung tendierenden ständig wachsenden Widerstand konfrontieren. Wir sollen die afghanische Bevölkerung schützen. Doch vor welchen Kräften? Der Widerstand rekrutiert sich doch zunehmend aus ihren eigenen Söhnen.Politiker verweisen stets auf die Gefährdung durch „die Taliban“. Die Aufständischen, gegen die heute vorgegangen wird, sind nicht mit den Taliban oder Al-Quaida aus den neunziger Jahren gleichzusetzen. Es sind vor allem die Söhne verarmter paschtunischer Bauern. Die Menschen in Afghanistan haben die vom Westen gegebenen Versprechen ernst genommen. Doch passiert ist viel zu wenig. Die meisten haben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft schon wieder verloren.Dabei ist immer wieder von Fortschritten die Rede, die gerade abgehaltenen Wahlen etwa wurden als großer Schritt auf dem Weg zur Stabilisierung des Landes gelobt. Die Zentralregierung ist in vielen Regionen ohne Einfluss, die Loyalität der Menschen orientiert sich an den traditionellen Werten. Es gibt im Prinzip keine funktionierende staatliche und unabhängige Justiz. Wirtschaftlich liegt das Land am Boden, das zieht soziale Probleme nach sich in einem Ausmaß, das sich viele gar nicht vorstellen können. Es fehlt an allem, es herrscht Korruption. Die Unzufriedenheit mit diesen Zuständen ist heute ein starker Motor der Aufstandsbewegung. Zulauf erhält diese auch wegen der ständigen militärischen Gewalt durch die internationalen Truppen, vor allem der USA. Ein Wiederaufbau ist so nicht möglich.Sie skizzieren ein schier unentrinnbares Dilemma: Weil die militärische Gewalt von NATO und US-Truppen zunimmt, werden die Aufständischen stärker – worauf die internationalen Kontingente mit neuen Offensiven reagieren.In der Tat. Wir haben es mit einer Spirale der militärischen Konfrontation zu tun. Die Aufständischen sind in den vergangenen Jahren immer fähiger und damit gefährlicher geworden. Das hatte ein massiveres Vorgehen der internationalen Truppen zur Folge. Die Zivilbevölkerung gerät dabei zwischen die Fronten. Das geht bei der Missachtung von Traditionen los. Etwa wenn das Tragen von Waffen, bei den Paschtunen eine Frage der Ehre, zur Verhaftung eines angeblich Aufständischen führt. Und das hört mit den Bombenangriffen nicht auf, bei denen statt der jeweiligen Angreifer, die sich nach ihren Attacken rasch in Dörfer zurückziehen, vor allem Zivilisten sterben. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden.Was schlagen Sie vor?Wir müssen akzeptieren, dass Afghanistan auf Dauer ein geteiltes Land bleibt. Es wird immer Regionen geben, die von anderen Kräften als der Zentralregierung kontrolliert werden. Weil aufständische Paschtunen aber keine Gefahr für andere Staaten darstellen, gibt es keinen Grund, sich dort militärisch in dem bisherigen Maße zu engagieren. Diese Erkenntnis würde den Weg frei machen zu einer Neuausrichtung der Afghanistanpolitik: Es wird sehr viel Geld für den Einsatz der Truppen ausgegeben. Mehr Brunnen, Straßen, Arbeitsplätze, Kliniken und so weiter sind aber eine viel bessere Investition in die Sicherheit Afghanistans. Die Erfahrung hat das gezeigt. Im Gegensatz dazu mussten wir lernen, dass mehr Militär an einem bestimmten Ort dort auch mehr Aufständische nach sich zieht.Wäre ein rascher Abzug dann nicht logisch?Nein. Dazu ist es jetzt zu spät. Ein rascher Abzug würde ein Machtvakuum hinterlassen, es könnte zu einem Bürgerkrieg kommen. Das kann niemand wollen.Aber muss man nicht wenigstens über Ausstiegsszenarien reden?Wenn heute von Exit-Optionen gesprochen wird, muss man doch fragen: Um welchen Ausstieg geht es hier? Der Westen darf Afghanistan nicht hängen lassen. Das Land ist eines der ärmsten der Welt. Was wir brauchen ist eine Umverteilung der Mittel – mehr Geld in den ökonomischen Aufbau, in soziale Projekte, und weniger in die Finanzierung einer militärischen Strategie, die das Gegenteil bewirkt.Inzwischen wird nicht nur in der Linkspartei mindestens ein Datum für einen Abzug der Bundeswehr gefordert. Halten Sie es für sinnvoll, jetzt eine klare Frist zu nennen?Ich halte das für keine gute Idee. Was, wenn wir innerhalb der Frist nicht vorangekommen sind? Gehen wir dann trotzdem, weil es so versprochen wurde?Welchen Ausweg sehen Sie dann?Man sollte versuchen, die Aufständischen in ihren Hochburgen im Süden und Osten des Landes durch einen teilweisen Rückzug zu isolieren. Frei werdende Kräfte könnten dann ihre Sicherheitsanstrengungen auf Schwerpunktgebiete konzentrieren, in denen der zivile Wiederaufbau mit aller Kraft und zusätzlichen Mitteln vorangetrieben werden muss. Das wäre ein dringend nötiges Signal an die Bevölkerung.Die Konflikte innerhalb der afghanischen Gesellschaft wären damit aber noch nicht gelöst.Deshalb muss parallel dazu ein Versöhnungsprozess in Gang gesetzt werden. Es gibt durchaus Ansätze: Zum Beispiel die Friedens-Jirga aus Stammesvertretern, religiösen Würdenträgern, Intellektuellen und Politikern. Solche Versammlungen repräsentieren die kriegsmüde Bevölkerungsmehrheit auch aus dem Süden und Osten. Ihnen wird in Zukunft eine wichtige Aufgabe zukommen. Für die Zeit, in der die internationalen Truppen nicht mehr im Land sind, braucht es eine Autorität, die die inneren Konflikte in Afghanistan bewältigen kann. Diese Ansätze müssen viel stärker unterstützt werden.Aber wer soll dazu die Initiative übernehmen? Die Militärs wohl kaum.Das ist eine Aufgabe der internationalen Gemeinschaft. Es klingt utopisch, aber man muss daran festhalten: Die afghanische Zivilgesellschaft muss gestärkt werden. Das ist die einzige Lösung.Das Gespräch führte Tom Strohschneider