Die SPD inszeniert sich als energische Kritikerin einer schwarz-gelben Afghanistan-Politik, die sie noch vor einem Vierteljahr in schwarz-roter Ausführung unwiderstehlich fand. Die Sozialdemokraten geben sich damit wieder einmal als Partei ohne Vergangenheit und Gesicht zu erkennen. Sie bezeugen ein erstaunlich unverschämtes Maß an Vergesslichkeit und Verdrängung, aber auch Verachtung des Publikums, von dem offenbar erwartet wird, nicht zu erkennen, was unübersehbar ist.
Man will gar nicht an den verschrobenen Satz des einstigen SPD-Verteidigungsministers Struck erinnern, wonach Deutschlands Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird. Wenn die Formel keine Floskel war, die Politik durch Propaganda ersetzt, sondern ein Axiom, dann ist die aufgeregte Debatte um den Bombenabwurf von Kunduz überflüssig. Wird die Sicherheit der Bundesrepublik von Afghanistan aus bedroht ist, kann nur jedes Mittel recht sein, diese Gefahr abzuwehren. Dann dürften sich Bombardements wie das von Kunduz wiederholen, dann sollten Bundesregierung und Parlament den Verteidigungszustand ausrufen, dann müsste sich der zum Untersuchungsgremium umgewidmete Verteidigungsausschuss mit der Frage beschäftigen, ob die Zahl der Soldaten und die Art ihres Mandats in Afghanistan ausreichen, Deutschland zu verteidigen. Seit Tagen erfährt man nun, dass die Sozialdemokraten mit dieser Logik ihrer eigenen Regierungspolitik seit 2001 (!) urplötzlich nichts mehr anfangen können. Die Oppositionspartei SPD rebelliert gegen die Regierungspartei SPD. Fast übergangslos und ohne Erklärung, weshalb man acht Jahre lang anders dachte und augenscheinlich im Irrtum war. Im Leben nennt man das Schizophrenie – in der Politik Radikalopportunismus. Und Prinzipienlosigkeit ist das einzig Glaubwürdige an diesem Gesinnungsschacher.
Da passt es ins Bild, dass ausgerechnet jetzt bekannt wird, Frank-Walter Steinmeier sei am 4. September als Außenminister der großen Koalition unmittelbar nach dem verheerenden Luftangriff über zivile Opfer ins Bild gesetzt worden. Dies gehe aus einem Gesprächsprotokoll des Wiederaufbauteams Kunduz der Bundeswehr (PRT) hervor, berichtet die ARD. Deren Fazit lautet: Es gab bereits am 4. September, dem Tag des Angriffs von Kunduz, konkrete Hinweise auf sieben verwundete und 14 getötete Zivilisten. Offenbar wusste der heutige SPD-Fraktionschef von toten Zivilisten, enthielt das der Öffentlichkeit aber genauso vor wie Ex-Verteidigungsminister Jung.
Was die geläuterte SPD nun zu tun hat, steht außer Frage: Sie muss die Auseinandersetzung mit den Galionsfiguren des alten Kurses in den eigenen Reihen suchen und sich von ihrem Fraktionsvorsitzenden und dessen Rolle in der Kunduz-Affäre distanzieren. Am besten, sie wählt ihn ab, um ihrem Wendemanöver wenigstens einen Hauch von Glaubwürdigkeit zu geben.