Der Akten-Zar

Gauck Der einstige Herrscher über die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck, ist am 24. Januar 70 Jahre alt geworden. Das politische Berlin gratulierte vorab

Es war viel von Revolution die Rede an diesem Abend und die ehemalige Berliner Kommandantur Unter den Linden 1, wo heute der Bertelsmann-Konzern residiert, bot die historisch-ironische Kulisse. Einstmals Sitz der preußischen Militärobrigkeit und eines gescheiterten Attentäters des 20. Juli 1944, wirkte die „Hymne auf die Revolution“ an diesem Ort wie eine nachgeholte Entschädigung. Wenngleich im konservativen Ambiente des Bürgertums, das sich zu dieser Feierstunde versammelt hatte, der Zusatz „friedlich“ nie fehlen durfte.

Mit Superlativen überhäuft

Der Nimbus des Jubilars, den es zu ehren galt, ermisst sich daran, dass die Bundeskanzlerin nebst Gatten höchst selbst herbeigeeilt war, um – ein wenig früh – zu gratulieren. Joachim Gauck, einst „Revolutionspastor“ in Rostock, dann zehn Jahre beamteter Cerberus einer unliebsamen DDR-Hinterlassenschaft, wird 70 Jahre alt und aus diesem Anlass allseits mit Superlativen bürgerlicher Ziviltät überhäuft: Er sei Aufklärer, Versöhner, Einheitsstifter und eine Instanz, die, mittlerweile als Vorsitzender des Vereins „Gegen Vergessen, für Demokratie“ dafür sorge, dass die DDR als „Unrechtsstaat“ in Erinnerung bliebe. Unter den Gratulanten sichtete man Erika Steinbach und den ehemaligen Regierenden, Eberhard Diepgen, das „linke“ Berlin machte sich eher rar.

Gaucks Vita – Sohn eines wegen Spionageverdachts vom sowjetischen Geheimdienst nach Sibirien verschleppten Seemanns, der nicht Journalist werden durfte, Theologie studierte und in der Kirche jenen Freiraum fand, den er im DDR-Alltag vermisste – liest sich wie aus der Soap des Zwischenmenschlichen: Notwendige Nähe ertragen und nötige Distanz halten. Während drei seiner Kinder in den Westen gingen, habe er seinen Platz als Jugendpfarrer auf dem Land und als Pastor im Rostocker Plattenbau nie angezweifelt. Den Versuchungen des „Weißenseer Kreises“, der glaubte, eine „Kirche im Sozialismus“ schaffen zu können, sei er nicht erlegen. Bonhoeffer und sein Nachfolger im Geiste, Landesbischof Heinrich Rathke, der ihn stark geprägt hat, hätten sich – ist Gauck überzeugt – dort, wo mit der Staatsmacht paktiert wird, auch nicht eingefunden.

Schwert im Tagesgeschäft

Dass der Pfarrer nach den Turbulenzen des Herbstes 1989 und dem kurzen politischen Intermezzo als Abgeordneter der Volkskammer zum Chef der nach ihm genannten Behörde ernannt wurde, hatte – obwohl der Zufall mitspielte – eine innere Logik. Lieber hätte er an Stelle von DDR-Staatssekretär Günther Krause den Staatsvertrag mit ausgehandelt. Ob er als selbst ernannter Anwalt der Opfer mit der „moralischen Überhöhung seiner Einrichtung“, wie Günter Gaus einmal schrieb, zum inneren Frieden beigetragen hat, kann man auch bezweifeln. Zumindest so lange die Akten als Schwert im politischen Tagesgeschäft fungieren.

„Freiheit“ steht auf dem Plakat, mit dem Joachim Gauck, der dem Neuen Forum angehörte, 1990 für das (Wahl-)Bündnis 90 kandidierte. Vom „dritten Weg“, dem die meisten seiner Kombattanten anhingen, hielt er schon damals nichts, er setzte, wenn man so will: nationalliberal, auf Freiheit durch Einheit. Das Revolutionspathos im Munde, wird auch 20 Jahre später die Einheit besungen. Es zu dämpfen, oblag an diesem Abend dem Schriftsteller György Dalos, der aus der Perspektive der „glücklichsten Baracke im Lager“, Ungarn, daran erinnerte, wie vergleichsweise luxuriös die Ankunft der Ostdeutschen im Westen war. Und „revolutionär“ nur der Moment, als das sich erhebende Volk nicht wusste, wie die Sowjetunion reagieren würde.

Joachim Gauck hat kürzlich seine Erinnerungen unter dem Titel Winter im Sommer Frühling im Herbst vorgelegt, die im Siedler-Verlag erschienen sind.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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