Der tödlich verunglückte polnische Staatschef war kein ergebener Europäer. Seine selbstbewusste Heimatliebe hat in Brüssel, Berlin oder Paris oft verstört und irritiert
Vorerst verdrängen Schock und Trauer über den Tod von Lech Kaczyński noch alle Analysen über den politischen Aderlass, der Polen widerfahren ist. Doch so viel lässt sich ohne jede Spekulation sagen – das EU-Mitglied Polen wird ohne den EU-Skeptiker Lech Kaczyński ein anderer Partner sein. Die Wille zum Widerspruch, die Passion der Provokation, die Veto-Macht, wie sie nur dem Eigenmächtigen zuteil wird, dürfte kein polnischer Politiker mit solcher Hingabe pflegen, wie das Lech Kaczyński tat.
Es ist erst wenige Monate her, dass er demonstrativ lange zögerte, den Lissabonner EU-Vertrag zu unterzeichnen, und kein Hehl daraus machte, erst das Wiederholungsreferendum in Irland abwarten zu wollen. Es störte ihn nicht übermä
äßig, in die Nähe des EU-Dissidenten Václav Klaus auf der Prager Burg zu geraten und sich dem Verdacht auszusetzen, auf ein Scheitern in Irland und damit das Ende des EU-Reformprojektes überhaupt zu hoffen. Am 10. Oktober 2009, eine Woche nach dem für die EU positiven Ausgang des irischen Plebiszits, drohte das Zeitspiel den Interessen Polens wie der eigenen Reputation derart schwere Schäden zuzufügen, dass Kaczynski in seinem Amtssitz ohne weitere Erklärung unterschrieb.Blutschwer und bodenständig Dieser Präsident fand Gefallen an der Versuchung, einer Eingemeindung durch Europa die trotzige Selbstisolation in Europa entgegen zu setzen. Er setzte arrivierte EU-Protagonisten der Erfahrung von Veto und Blockade aus, wie es das bis zur Aufnahme der mittelosteuropäischen EU-Novizen im Mai 2004 nicht gegeben hatte. Der Glanz des europäischen Gedankens wirkte auf einmal erstaunlich stumpf, wenn sich Lech Kaczyński oder Václav Klaus davon nicht blenden ließen. In der EU-Zentrale sorgte das regelmäßig für Befremden und Irritation. Auch die deutsch-polnischen Beziehungen blieben davon nicht unberührt. Belastet waren sie ohnehin durch die mit Russland vereinbarte Ostsee-Pipeline, vor allem aber das von Geschichtsrevisionismus triefende Projekt eines Zentrums gegen Vertreibung, das die Bundesregierung der großen Koalition zusammen mit dem Bund der Vertriebene (BdV) meinte, auf den Weg bringen zu müssen.Man machte in Brüssel keinen Hehl daraus, dass es in der Phase der EU-Annäherung und der Beitrittsgespräche mit Polen in den späten neunziger Jahren sehr viel leichter gefallen war, mit den postkommunistischen Konvertiten der Demokratischen Linksallianz (SDL) eine gemeinsame Sprache zu finden, als mit den Brüdern Lech und Jaroslaw Kaczyński und ihrem blutschweren, bodenständigen Konservatismus. Da war vieles plötzlich nicht mehr „comme il faut“ und von den Kaczyńskis als „Kartoffeln“ die Rede, die einen Acker bestellten, der das von Zucht- und Zierpflanzen strotzende westeuropäische Treibhaus zu entweihen drohte.Sehnsucht nach der IV. RepublikMag auch nach dem Flugzeugabsturz von Smolensk gelten „De mortibus nihil nisi bene“, ist es doch pure Heuchelei und wird weder Statur noch Persönlichkeit des polnischen Staatschefs gerecht, ihn als überzeugten und ergebenen Europäer zu feiern. Im Gegenteil, seine selbstbewusste Heimatliebe hatte etwas mit selbst gewählter europäischer Heimatlosigkeit zu tun, die Lech Kaczyński als Law-and-Order-Politiker zuweilen auf Abwege geraten ließ, auch wenn sie aus seiner Sicht keine sein mochten.Entgegen dem geltenden EU-Kanon inszenierte er im Spätsommer 2006 eine öffentliche Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe und erklärte: Der Verzicht darauf gebe dem Gesetzesbrecher „einen unvorstellbaren Vorteil“ gegenüber seinem Opfer – die Absorption einer in Polen populären Position, mit der sich Kaczyński ohne Skrupel und mit viel Überzeugung in die Figur des volksnahen Populisten begab, der aus Volksempfinden Politik destilliert. Es schien mitunter Prinzip seines Regierens, dem Gebot zu folgen – je angreifbarer ich in Europa bin, desto unbeirrbarer muss ich in Polen sein.Brüssel quittierte das Plädoyer für die Todesstrafe durch René van der Linden, den Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, mit einem geharnischten Ordnungsruf. Was da aus Warschau zu hören sei, verstoße gegen „Grundsätze des aufgeklärten Europäers". In der Tat, es galten andere, oft fundamentalistische Normen, wenn Lech Kaczyński mit seiner Sehnsucht nach der IV. Republik die Vorzüge des restaurativen Polentums feierte und ein Sammelbecken für Modernisierungsskeptiker wie soziale Verlierer Wende-Polens zu schaffen gedachte. Gelungen ist ihm das nur bedingt und um den Preis einer Polarisierung der Gesellschaft, die erst aufgefangen und kanalisiert wurde, als Donald Tusk mit seiner Bürgerplattform (PO) im Oktober 2007 die Sejm-Wahl gewann und danach als Premier mit Waldemar Pawlaks Polnischer Volkspartei (PSL) eine Regierung bildete, die den Hausherren im Präsidentenpalast zu einer polnischen Cohabitation zwang. Was diesem sichtlich schwerfiel.