Die moderne Rechtskonzeption des Flüchtlings ist ihrem Wesen nach eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Natürlich gab es auch schon Flüchtlinge, bevor wir einen Begriff und ein Gesetz für sie hatten. Die europäischen Juden wurden über die Jahrhunderte immer wieder verfolgt und vertrieben, 1290 aus England, 1490 von der Inquisition aus Südeuropa – bis es zu den Emanzipationsgesetzen im 19. Jahrhundert kam, mit denen sie immer noch als Bürger zweiter Klasse behandelt wurden.
Als Nazi-Deutschland den Juden als Vorstufe des Völkermordes die Bürgerrechte entzog, war dies wesentlich mehr als nur ein symbolischer Akt. Es zeigte, welche Verfügungsmacht das Gesetz über das menschliche Leben an sich hat. Ist die vor fast 60 Jahren als
ren als Reaktion auf den Holocaust geschaffene Flüchtlingskonvention von 1951 für die Flüchtlingskrise von heute immer noch zweckdienlich?Ihre Form weist sie durch und durch als Produkt der politischen und juristischen Geschichte Europas aus. Ursprünglich sollte sie auch nur für Flüchtlinge dieses Kontinents gelten. Die grundlegende Definition, was ein Flüchtling sei, findet sich in Artikel 1A (2). Sie findet Anwendung auf jede Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose Person infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.“Ausnahme von der Regel Während der ersten Jahre des Kalten Krieges war der Flüchtling eine politisch bedeutsame Figur, die oft als Sinnbild für die Brutalität feindlicher Regimes und die Menschlichkeit der Aufnahmeländer instrumentalisiert wurde. Die Anzahl von Flüchtlingen, die in Europa Asyl beantragten, war damals relativ gering und die Mehrzahl der Bewerber erfüllte die Bedingungen der Konvention.In den achtziger Jahren aber hatte sich das Bild des Flüchtlings in der europäischen Vorstellung verändert. Nun stellte er plötzlich die Ausnahme von der Regel der normalen Visa-Anforderungen dar: Souveräne Staaten sind nach dem Gesetz dazu berechtigt, die Einreise von Nicht-Bürgern zu kontrollieren, solange es sich nicht um Flüchtlinge handelt. In einer zunehmend von Migration bestimmten Welt führte dies dazu, dass Flüchtlinge immer stärker als Bedrohung wahrgenommen werden. Ein einschneidendes Ereignis stellte der Krieg in Sri Lanka dar, vor dem tausende Tamilen nach Europa flohen. Konfrontiert mit einer Massenvertreibung von Menschen der südlichen Hemisphäre, lehnten die europäischen Staaten deren Asylanträge ab und behaupteten, die Angst der Geflohenen gehe auf „willkürliche“ Akte von Gewalt, nicht aber auf Verfolgung zurück. Einigen Tamilen, die nach Sri Lanka zurückgeschickt worden waren und dort gefoltert wurden, gelang es, britische Gerichte von der Notwendigkeit der Ausweitung ihrer Vorstellungen des Geltungsbereiches der Konvention zu überzeugen.Ausschluss vom ArbeitsmarktDa die Kapitalströme bei ihrer Zirkulation um den Globus nach immer größerer Freiheit verlangten, wurden immer mehr Handelsschranken abgesenkt und die westliche Freiheits-Ideologie auf der ganzen Welt verbreitet. Die Einreisekontrollen wurden im Gegenzug freilich immer restriktiver gehandhabt, und das Gesetz produzierte immer mehr von dem, was es fortan „illegale“ Menschen nannte. Auf der einen Seite wurde die Schere zwischen den Reichen und Armen dieser Welt immer größer. Wirtschaftsmigration geriet immer stärker in Verruf, auf der anderen Seite brachte die Globalisierung neue Herausforderungen und zwang immer mehr Menschen dazu, ihr Zuhause zu verlassen und in einem anderen Land zu arbeiten.Migration ist heute eine Gegebenheit des Lebens geworden. Die Zahl der extra-legalen Migranten rund um den Globus beläuft sich auf 50 Millionen Menschen. Innerhalb der EU dürfen die Bürger sich frei bewegen, wohnen und arbeiten, wo immer sie wollen. Wenn man das nötige Geld hat, kann man sich für so ziemlich jedes Land dieser Erde ein Visum kaufen. Für die Armen aber gelten andere Regeln.Viele irreguläre Migranten dürften in Wahrheit Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention sein. Das heißt, sie können nicht nach Hause zurückkehren. Indem sie allein auf die ethnische Zugehörigkeit und die wirtschaftlichen Kosten starren, anstatt auf die Gründe, aus denen Menschen geflohen sind, haben die Staaten neue Methoden entwickelt, diese Menschen zu kriminalisieren. Die eindeutigsten Beispiele hierfür sind Haft, Ausschluss vom Arbeitsmarkt, ein eingeschränktes Antragsrecht in Schnellverfahren.Wenn ihre Anträge abgelehnt werden, nennt man die Asylbewerber „illegal“ oder „falsch“. Dieses Attribut wird jedem angeheftet, dessen Fluchtgründe nicht denen der Konvention von 1951 entsprechen: wenn also Frauen vor sexueller Gewalt fliehen, Homosexuelle verfolgt werden, weil sie homosexuell sind, wenn Kinder von ihren besorgten Eltern aus einem aktiven Kriegsgebiet weggeschickt werden oder Menschen als Sexsklaven in ein Land geschleust wurden.Zugleich hat das Flüchtlingsrecht sich als unglaublich flexibel erwiesen. Tapfere Richter sind bereit, die juristische Auffassung, wie die Konvention heute auszulegen sei, zu erweitern und gegen die Versuche der Verwässerung ihrer Begriffe zu verteidigen. 60 Jahre nach ihrer Einführung mag die Konvention nicht mehr ganz frisch sein, dennoch hält sie die Hoffnung auf das Beste der europäischen Tradition – der Universalität der Menschenrechte gegen immer reaktionärer werdende Staaten aufrecht. Dieser Wahrheit dürfen wir uns nicht verschließen.