Abendessen mit der herrschenden Elite, Hinterzimmer-Deals und geheime Treffen waren stets Teil der Diplomatie. Im digitalen Zeitalter können nun alle Berichte über diese Partys und vornehmen Plaudereien in einer gewaltigen Datenbank gesammelt werden. Und sind sie erst einmal in digitaler Form gesammelt, dann wird es extrem einfach, sie zu teilen.
In der Tat war das der Grund, weshalb die Datenbank Siprnet, aus der die Botschafts-Depeschen stammen, überhaupt erst eingerichtet wurde. Die Kommission, die 9/11 untersuchte, hatte die bemerkenswerte Entdeckung gemacht, dass die nationale Sicherheit nicht etwa durch zuviel Informationsaustausch gefährdet worden war – das Problem war vielmehr, dass es keinen Informationsaustausch gab. Die mangelnde Zusammenarbeit zwischen
Übersetzung: Christine Käppeler / Holger Hutt
zwischen Regierungsstellen und das Horten von Informationen seitens der Bürokraten führten zu zahlreichen „verpassten Gelegenheiten“, um die Anschläge aufzuhalten. Infolge dessen ordnete die Kommission eine Umstrukturierung der öffentlichen Stellen und der Geheimdienste nach dem Vorbild des Internets an. Kollaboration und Informationsaustausch lautete das neue Ethos. Doch während Siprnet Millionen von Staatsbediensteten und Auftragnehmern der Regierung offen stand, hatte die Öffentlichkeit keinen Zugang.Daten haben allerdings die Angewohnheit, sich auszubreiten. Sie schlüpfen an militärischen Sicherheitsdiensten vorbei und können auch von Wikileaks aus weiter durchsickern – so bin ich an die Daten gekommen. Sie können sogar das Embargo durchbrechen, das dem Guardian und den anderen beteiligten Medien auferlegt wurde, wenn eine abtrünnige Ausgabe des Spiegel aus Versehen in Basel bereits am Sonntag verkauft wird. Jemand kaufte sie, erkannte, was er da in der Hand hat, scannte die Seiten ein, übersetzte sie vom Deutschen ins Englische und hielt die Öffentlichkeit über Twitter auf dem Laufenden. Es scheint, dass digitale Daten sich keiner Autorität beugen, egal ob sie es nun mit dem Pentagon, WikiLeaks oder einem Zeitungsherausgeber zu tun haben.Jeder einzelne von uns hat bereits die massiven Veränderungen durch die Digitalisierung zu spüren bekommen. Ereignisse und Informationen, die einst als kurzlebig oder privat galten, werden nun angesammelt, dauerhaft und öffentlich. Wem der Umfang dieser Depeschen riesig vorkommt, der denke nur an die 500 Millionen Facebook-Nutzer oder an die Abermillionen Aufzeichnungen, die Google aufbewahrt. Die Regierungen sammeln unsere persönlichen Daten in gigantischen Datenspeichern. Früher kostete es Geld, Informationen zu veröffentlichen und zu verbreiten. Im digitalen Zeitalter kostet es Geld, das zu verhindern.Wenn die Persönlichkeitsrechte der Bevölkerung verletzt werden, kümmert das die Politiker kaum. Unsere Privatsphäre ist entbehrlich. Dass die Reaktion auf diese Enthüllungen anders ausfällt, überrascht kaum. Was die Dynamik der Macht auf revolutionäre Art verändert hat, ist nicht nur der Umfang der aufbewahrten Datenbanken, sondern die Tatsache, dass ein Einzelner eine Kopie davon hochladen und sie der Welt präsentieren kann. In Papierform würden die Depeschen 13.969 Seiten einnehmen, was einen 25 Meter hohen Stapel ergäbe – im Papierzeitalter hätte man den nicht so leicht an den Sicherheitsdiensten vorbeischmuggeln können.Für viele bedeutet das eine Krise, andere begreifen es als Chance. Die Technologie bricht die traditionellen gesellschaftlichen Barrieren auf – Status, Klassenzugehörigkeit, Macht, Reichtum und geographische Lage – und ersetzt sie durch ein Ethos der Zusammenarbeit und Transparenz.Der frühere US-Botschafter in Russland, James Collins, sagte gegenüber CNN, die Veröffentlichung der Depeschen „werde es erschweren, die Dinge auf eine normale, zivilisierte Art zu erledigen“. Allzu oft bedeutet „normal“ und „zivilisiert“ in der Diplomatie, dass gegenüber sozialen Ungerechtigkeiten, Korruption und Machtmissbrauch ein Auge zugedrückt wird. Nachdem ich mehrere hundert Depeschen durchgelesen habe, kann ich sagen, dass der „Schaden“ für die Diplomatie größtenteils aus Peinlichkeiten und unbequemen Wahrheiten besteht. Um eines Militärstützpunktes willen ist unsere Regierung bereit, einen brutalen Diktator zu akzeptieren, der sein Volk unterdrückt. Kurzfristig mag das für Politiker praktisch sein, doch die langfristigen Konsequenzen können für die Weltbevölkerung verheerend sein.Und so sind Datenlecks nicht das Problem; sie sind das Symptom. Sie enthüllen eine mangelnde Verbindung zwischen dem, was die Menschen wollen und wissen müssen und dem, was sie tatsächlich wissen. Je höher die Geheimhaltung, desto wahrscheinlicher kommt es zu einem Leck. Umgehen lässt sich das nur, wenn eine streitbare Regierung der Öffentlichkeit den Zugang zu wichtigen Informationen garantiert.Dank dem Internet erwarten wir inzwischen in den meisten Bereichen unseres Lebens ein höheres Maß an Wissen und Teilhabe. Die Politik hat sich jedoch hartnäckig unbeirrbar gezeigt. Politiker betrachten sich selbst als Eltern, die Öffentlichkeit als ihre Kinder – und einer solchen Öffentlichkeit können sie weder die Wahrheit anvertrauen, noch die ganze Macht, die das Wissen mit sich bringt.Bei der Empörung über Wikileaks geht es größtenteils nicht um den Inhalt der Enthüllungen, sondern um die Verwegenheit, bislang nicht entwicklungsfähige Festen der Autorität aufzubrechen. In der Vergangenheit haben wir uns der Autorität gebeugt und wenn uns jemand von offizieller Seite sagte, etwas gefährde die nationale Sicherheit, dann nahmen wir das für bare Münze. Nun wird das Rohmaterial hinter diesen Ansprüchen zunehmend zum Allgemeingut. Die Veröffentlichung der Spesen unserer Abgeordneten oder die Enthüllung der Komplizenschaft bei Folter haben uns gezeigt, dass Politiker oft von einer Bedrohung der „nationalen Sicherheit“ sprechen, wenn sie eigentlich meinen, dass die Sicherheit ihrer eigenen Position bedroht ist.Wir stehen an einem entscheidenden Punkt, an dem die Visionäre, die die Vorhut eines globalen digitalen Zeitalters bilden, mit denen in Konflikt geraten, die verzweifelt unter Kontrolle halten wollen, was wir wissen. Wikileaks bildet die Guerilla-Front einer globalen Bewegung für mehr Transparenz und Partizipation. Dazu gehören zum Beispiel Projekte wie Ushahidi, die soziale Netzwerke benutzen, um Karten zu erstellen, auf denen man vor Ort gewaltsame Zwischenfälle melden kann, die in der offiziellen Version der Ereignisse fehlen. Andere Aktivisten wollen offizielle Daten freisetzen, damit die Bürger zum Beispiel im Detail sehen können, welche Ausgaben ihre Regierung tätigt.Ironischerweise zählte das US-Außenministerium zu denen, die am lautesten jubelten, dass die technischen Innovationen an Orten wie China und Iran die Demokratie bringen können. Präsident Obama hat unterdrückerische Regime gedrängt, die Zensur des Internets aufzuheben. Doch ein Gesetzentwurf, der dem Kongress vorliegt, soll dem Generalstaatsanwalt die Befugnis erteilen, eine schwarze Liste mit Webseiten zusammenzustellen. Ist eine streitbare Demokratie nur dann gut, wenn sie nicht bei uns zuhause statthat?Früher kontrollierten Regierungen die Bürger, indem sie Informationen kontrollierten. Nun ist es für die Mächtigen schwieriger als jemals zuvor, zu kontrollieren, was die Menschen lesen, sehen und hören. Die Technik verleiht den Menschen die Fähigkeit, sich zusammenzuschließen und die Autorität in Frage zu stellen. Die Mächtigen spionieren die Bürger schon seit langem aus (Überwachung), um sie zu kontrollieren, jetzt nehmen die Bürger gemeinsam die Mächtigen ins Visier (Unterwachung).Dies ist eine Revolution und wie jede Revolution erzeugt sie Angst und Unsicherheit. Bewegen wir uns auf eine neue informationelle Aufklärung zu oder werden uns diejenigen, die um jeden Preis die Kontrolle behalten wollen, in einen neuen Totalitarismus führen? Was in den kommenden fünf Jahren geschieht, wird die Zukunft der Demokratie auf die nächsten hundert Jahre hinaus bestimmen. Unsere Regierungen täten daher gut daran, bei ihrer Reaktion auf die gegenwärtigen Herausforderungen an die Zukunft zu denken.