Merde!

Kommentar Die Deutschen haben Sarrazin, die Franzosen einen Stephane Hessel. Der eine steht für Niedertracht, der andere für Hoffnung. Über die französische Kultur der Empörung

Frankreich kennt eine Kultur der Empörung. Im vergangenen Herbst kam das Land gleichsam zum Stillstand, als die Gewerkschaften die Benzinversorgung lahmlegten. Es ging um die Rentenpolitik der Regierung. Jetzt kaufen die Franzosen ein schmales Bändchen mit dem Titel Empört Euch!. Auflage bisher 900.000. Es liegt an den Kiosken neben der Kasse. Stephane ­Hessel, 93 Jahre alt, Diplomat, Dichter, Kämpfer der Résistance, Überlebender des KZ Buchenwald, ruft seinen Lesern den bemerkenwerten Satz zu: „Ich wünsche jedem Einzelnen von Ihnen einen Grund zur Empörung. Das ist sehr wertvoll. Wenn etwas Sie empört, wie mich die Nazis empört haben, werden Sie kämpferisch, stark und engagiert.“ Mit diesen Worten ruft Hessel die Franzosen zum Widerstand gegen den unmenschlichen Kapitalismus der Gegenwart auf.

Die französische Bevölkerung ist um etwa ein Drittel kleiner als die deutsche. Die Auflage von Hessels Schrift ist für französische Verhältnisse etwa so hoch wie die Auflage des Buches von Thilo Sarrazin. Auch diesem Buch liegt eine Empörung zugrunde. Aber worüber empört sich der Deutsche? „Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken türkisch und arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine bestimmt wird.

Übung für den Ernstfall

Wenn ich das erleben will, kann ich eine Urlaubsreise ins Morgenland buchen.“ Wenn der Franzose Hessel sich um Frankreichs Zukunft sorgt, geht es um Gerechtigkeit. Sarrazins Sorge um die Zukunft Deutschlands dreht sich um Geld und Gene. Der politische Streik, den die Franzosen als Empörungsventil nutzen, ist in Deutschland nach geltender Rechtsprechung verboten. Hier darf der Arbeiter nur für sich selbst kämpfen, für mehr Geld, bessere Bedingungen. Er darf nicht für höhere Zwecke kämpfen, für die Gesellschaft. Was stünde da nicht auf dem Spiel: Die Stabilität des Systems! Und dann die Kosten für das Gemeinwesen! Aber das sind Kosten, die man in Frankreich offenbar in Kauf nimmt. Auch der letzte große Streik war ja nicht ohne seinen Preis. Eine gute Schätzung bezifferte die Kosten auf ein Zehntel Prozent vom Sozialprodukt, das sind etwa zwei Milliarden Euro. Als deutscher Polit-Zyniker kann man ja fragen: War es das wert? Weil die Raffinerien ja längst wieder laufen und die Rentenreform, um die es ging, ja kommen wird. Weil also der Streik nichts verändert hat. Aber das wäre ein Missverständnis. Der Streik ist ein notwendiger Teil des politischen Rituals, in dem das Volk sich seiner selbst bewusst wird.

Und er ist ein Training, eine Übung für den gesellschaftlichen Ernstfall, für den demokratischen Notfall, wenn Widerstand wichtig wird. Die Deutschen haben nie gelernt, in solchen Kategorien zu denken. Das Wiegenlied von der Sozialpartnerschaft hat sie eingelullt. Und in dieser neuen Epoche, die uns umgibt, in der diese Partnerschaft einseitig gekündigt wurde, steht der Deutsche blöd da und ihm ist kein Mittel zur Hand, sich zu wehren. Stattdessen erlaubt er sich jetzt in der Gestalt des Thilo Sarrazin wieder Sätze wie diesen, leider nur zu bekannten Ausspruch: „Ich muss niemanden an­erkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.“

Die Franzosen haben Stephane Hessel und wir Thilo Sarrazin. Die Franzosen machen ein Buch der Hoffnung zum Bestseller. Die Deutschen ein Buch der Niedertracht.

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Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

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