Die Publikation von Guantánamo-Dokumenten durch den Guardian verweist auf ein Strafsystem, das sich über das Recht stellt und dadurch Unschuldigen keine Chance lässt
Als Metapher für alles, was im Afghanistan-Krieg schief gegangen ist, lässt sich kaum eine bessere Geschichte finden als die der beiden Gefängnisse: In dem einen schafft man es nicht, die Gefangenen loszuwerden, in dem anderen kann man die Insassen nicht halten. Das eine liegt in einer US-Enklave auf Kuba, das andere im afghanischen Kandahar. In beiden Fällen steht das westliche Militärbündnis dumm da.
Im Süden Afghanistans entkamen am Morgen des 25. April 475 Gefangene – fast alle mutmaßliche Taliban – durch einen Tunnel, der offenbar unter den Augen des Wachpersonals gegraben wurde. Während die Taliban gerade ihren Weg in die Freiheit fanden, veröffentlichten Guardian und NewYork Times Geheimdokumente, die offen legen, wie in j
Übersetzung: Holger Hutt
Guardian und NewYork Times Geheimdokumente, die offen legen, wie in jenem anderen berühmten Gefängnis namens Guantánamo Bay mit den Insassen umgegangen wird. Barack Obama war 2008 mit dem Versprechen gewählt worden, er werde das Lager auf Kuba innerhalb eines Jahres nach seinem Amtsantritt schließen. Mittlerweile hat er diesen Vorsatz aufgegeben, obwohl noch 172 Menschen dort festgehalten werden. Bei einigen von ihnen handelt es sich den veröffentlichten Dokumenten zufolge um wirklich gefährliche Zeitgenossen, während andere nach jahrelanger Haft wegen der vielen über sie gesammelten Fehlinformationen entweder nicht strafrechtlich verfolgt werden können oder heimatlos geworden sind wie die chinesischen Uiguren, die schlicht keinen Ort haben, an den sie gehen könnten.In die Mühlen geraten Guantánamo verkörpert das Scheitern des Afghanistankrieges, der 2001 mit bombastischem Furor begonnen wurde, aber schon lange planlos verläuft und gescheitert ist. Was die jetzt veröffentlichen Dokumente verdeutlichen, das ist nicht nur die unwürdige, sich selbst über jedes Recht stellende Auslagerung der Inhaftierten in einen rechtsfreien Raum – es sind nicht einmal Folter und Misshandlung der Guantánamo-Insassen, sondern die Willkür und Ineffizienz des Systems. Das Argument der Betreiber des Lagers, es handele sich um ein wirkungsvolles Instrument, die Welt sicherer zu machen, wird von diese Dokumenten widerlegt.Wer sich durch die interaktive Liste der 779 Gefangenen klickt, die das System durchlaufen haben, findet Leute, die wirklich durch und böse sind, neben profanen Kriminellen und Menschen, die nur aus Versehen in die Mühlen dieses Systems geraten sind. Die Dokumente zeigen, dass Guantánamo gänzlich ungeeignet ist, belastbare Informationen über den Terrorismus zu erhalten und den als Terroristen Angeklagten einen Hauch von Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – es wird deutlich, dass die gesammelten Informationen lediglich von einer Handvoll Informanten unter den Gefangenen stammen. Einige davon mögen der Wahrheit entsprechen, andere sind mit Sicherheit falsch. Nach neun Jahren Guantánamo lässt sich das nicht mehr feststellen. Dieses Camp war und ist eine Art Deponie, auf die alle möglichen Leuten abgeschoben werden, und kein Ort – wie die USA einst behaupteten –, an dem die schlimmsten ihrer schlimmsten Feinde festgehalten werden. Die Schlimmsten der SchlimmenUnter den durchgestochenen Dokumenten findet sich eine Anleitung für Verhöre, dazu Tipps, worauf man bei der Identifikation eines Terroristen besonders achten sollte. Der Text legt offen, dass ein extremer Mangel an Präzision bestand und er verdeutlicht, dass es für die Insassen nahezu unmöglich war beziehungsweise ist, irgendjemanden von ihrer Unschuld zu überzeugen. Ein vermeintliches Zeichen für terroristische Verbindungen war zum Beispiel eine spezielle Casio-Uhr. Ein anderes die Tatsache, dass jemand nach den Anschlägen vom September 2001 nach Afghanistan gegangen war. Unter den Inhaftierten waren ein 14-jähriger Junge und ein 89 Jahre alter Greis, die beide nichts mit den Taliban zu schaffen hatten. Sie wurden unter Hinwegsetzung über die Rechtsstaatsprinzipen als „feindliche Kombattanten“ inhaftiert, und so Teil eines grausamen und surrealen Systems, das sich durch die eigene Unrechtmäßigkeit aufrecht erhielt.Wenn jemand erst einmal den Planeten Guantánamo betreten hat, ist es äußerst schwer, ihn wieder herauszubekommen, diese Erfahrung hat auch Präsident Obama gemacht. Die Art und Weise der Verhöre machen ein Verfahren vor einem Zivilgericht nahezu unmöglich. Unschuldige oder für die Geheimdienste Unbedeutende saßen fest oder wurden nur mit großem Verzug freigelassen. Je mehr über Guantánamo bekannt wird, desto mehr kristallisiert sich heraus, dass dieses Lager eine völlige ungeeignete Reaktion auf den Terrorismus darstellt. Es war ein Symbol der Rache – und kein Rechtssystem.