Wer hätte das gedacht – in vier Jahren hat sich die Kinderarmut halbiert. Das Berliner Wirtschaftsforschungsinstitut DIW hat seine Angaben über die Zahl armer Kinder korrigiert: Statt 16 wachsen jetzt nur noch 8 Prozent der Kinder in Deutschland in Armut auf, meldet die OECD, die sich vom DIW mit Zahlen beliefern lässt. Das sind zwar 8 Prozent zu viel. Gewiss aber liegt der Wert nicht mehr weit über dem Schnitt der OECD-Vergleichsstaaten, sondern weit darunter.
Grund für diese schöne Meldung ist freilich keine Verbesserung der Lebensverhältnisse. Die Halbierung ist eine rein mathematische: Das Institut hat seine Datensätze über die deutschen Einkommensverhältnisse überarbeitet. Es hatte bislang nicht ordentlich einberechnet, dass
net, dass viele Befragte ihre finanzielle Lage falsch oder gar nicht darstellen.Der Vorgang ist mehr als eine Panne irgendwelcher Datenhuber. Mit der Kinderarmutszahl wird Regierungspolitik gemacht, und das DIW mit seiner gigantischen Datenbank genießt Glaubwürdigkeit im gesamten Meinungsspektrum. Wenn das DIW etwa die Armutsberichterstattung der Bundesregierung von links angreift, ist dies auch für Merkel-treue Journalisten bedeutsam. Muss das DIW zugeben, dass es jahrelang fehlerhaft gerechnet hat, ist das nicht nur für das Haus selbst eine Katastrophe. Die Peinlichkeit weitet sich auf alle aus, die unter Berufung auf DIW-Zahlen mit Schwarz-Rot und mit Schwarz-Gelb ins Gericht gegangen sind.Mit DIW-Zahlen argumentiertAuch innnerhalb dieser beider Regierungen taugten die Kinderarmutsziffern noch stets dazu, Unfrieden zu stiften. Es war Ursula von der Leyen, damals noch Familienministerin, die das Tabu brach und regierungsoffiziell erklärte, es gebe Kinderarmut in Deutschland und diese sei beschämend. Das war ein relativer Fortschritt. Denn bis dato hatten sämtliche Kabinette sowohl den Begriff wie auch das Phänomen weiträumig umschifft. Es blieb UNICEF, Caritas und Co. vorbehalten, rituell auf die neue Kinderarmut hinzuweisen – ohne Echo. Von der Leyen aber argumentierte auch mit DIW-Zahlen und machte sich damit in den eigenen CDU-Reihen keine Freunde.Wer sich nun darin bestätigt fühlt, dass man keiner Statistik zu glauben brauche, die man nicht selbst gefälscht habe, darf dies am Küchentisch gern weiter so erzählen. Er bekundet damit aber bloß sein Desinteresse an Sozial- und Umverteilungspolitik. Diese findet eben unter den Bedingungen guter Zahlen, wahrhaftiger Zahlen, auch: sich verändernder Zahlen statt.In diesem letzten Punkt aber steckt aktuell das besondere Skandalon. Denn wie groß die Kinderarmut ist, darüber variieren die Angaben schon aus methodischen Gründen stark – je nachdem, ob man als „Armut“ 50 oder 60 Prozent vom mittleren Einkommen bezeichnet, ob man Hartz-IV-Bezug mit „Armut“ gleichsetzt, ob als „Kinder“ alle Unter-15- oder alle Unter-18-Jährigen gelten und so weiter. Alle amtlichen Statistiken aber haben von 2005 bis 2009 einen beträchtlichen Anstieg der Kinderarmut gemessen: um ein Viertel bis ein Drittel. Selbst wer meint, dass Kinderarmut nicht nur am Einkommen der Eltern zu messen ist, muss das erschütternd finden. Denn dieser Anstieg ist der schlagendste Beweis dafür, in welch groteskem Ausmaß die Familien- und Sozialpolitik der vergangenen Jahre gescheitert ist. Ursula von der Leyen hat es geschafft, ihren relativen Erkenntnisfortschritt in einen absoluten Entwicklungsrückschritt zu verwandeln.Im Ergebnis wurde die dem deutschen Sozialapparat eigene Umwucht noch verstärkt, wonach der Löwenanteil des eingezahlten Geldes stets bei denen landet, die es am wenigsten brauchen. Mit von der Leyens Elterngeld gönnen sich nun die Gutverdiener schöne Reisen in den „Vätermonaten“ – bezahlt von den Eltern am Existenzminimum, denen das frühere Erziehungsgeld gekürzt wurde. Die Erweiterung des Kinderzuschlags für Gerade-noch-nicht-Hartz-IV-Familien ist irgendwo verpufft. Mit der letzten Kindergelderhöhung wurden Milliarden Euro in der Gegend verteilt – nicht aber an Hartz-IV-Eltern, denen das Kindergeld vom Regelsatz abgezogen wird. Der Ausbau der Kinderbetreuung hakt unter anderem an der Finanznot der Kommunen. In jedem Fall kann er gar nicht so schnell weitergehen, wie die Arbeitszeiten der Mütter sich verlängern, wenn sie von ihrem Lohn leben wollen oder müssen. Ob und wie das unter Mühen eingeführte Bildungspaket umgesetzt wird, ist Gegenstand von Spekulation. Doch dürfte die Aussicht auf Blockflötenkurse die soziale Spaltung in den Grundschulen nur wenig mildern (in den Hauptschulen sind die armen Kinder dank des ständischen Schulsystems dann ja wieder unter sich).Für jede kommende Regierung heißt das: Die familienpolitischen Leistungen müssen gebündelt und strikt von oben nach unten gelenkt werden. Auch ein Kindergrundeinkommen hätte den Schönheitsfehler, dass seine Umverteilungswirkung begrenzt wäre. Vor allem aber funktioniert von der Leyens maßgebliches Prinzip nicht: Die wachsende Ungleichheit in Ordnung zu finden, bei den Kinderchen aber eine Ausnahme zu machen. Es war und ist sozialpolitisch nötig, die materielle Lage der Kinder zu skandalisieren. Doch wird es sozialpolitisch nicht funktionieren, nur ihnen helfen zu wollen.