Politik
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Wie Hammerschläge
Vor 70 Jahren gab es Deutsche, die so viel Mut und so viel Verantwortung für ihr Land hatten, sich dem Krieg gegen die Sowjetunion zu widersetzen und viel zu riskieren
Am 12. März 1941 fragt in Moskau Oberst Pawel Fitin, Chef des Auslandsnachrichtendienstes im NKGB, schriftlich bei Georgi Dimitroff nach, ob er als Vorsitzender der Kommunistischen Internationale Auskunft über 13 Deutsche geben könne. Man wisse nur, dass sie vor 1933 in Berlin zum Bund der Geistesarbeiter gehörten und mit der Sowjetunion sympathisierten. Unter den 13 Namen sind die von Arvid Harnack (vom NKGB fälschlich mit dem Vornamen Johannes versehen) und Harro Schulze-Boysen. Der eine Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, der andere Oberleutnant in der Luftwaffenführung, mit einem Schreibtisch im Dunstkreis von Hermann Göring.
Die seit August 1940 von Alexander Korotkow alias Alexander Erdberg an der sowjetischen Botschaft in Berlin gef
rlin geführte Filiale des NKGB pflegt Kontakte zu beiden, ohne dass Schulze-Boysen und Harnack anfangs voneinander wissen. Was diese Schneise – geschlagen in den deutschen Militär- und Regierungsapparat – an Auskünften hergibt, kann brisanter kaum sein. Die seit dem Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 äußerlich ungetrübten deutsch-sowjetischen Beziehungen werden vom Kopf auf die Füße gestellt. Seit Herbst 1940 wissen Korsikanez (Korse) und Starschina (Feldwebel) – so die Decknamen für Harnack und Schulze-Boysen in den Erdberg-Depeschen –, der Überfall auf die UdSSR ist unabwendbar. Am 9. März 1941 gibt Erdberg an die Zentrale in Moskau weiter: „Nach Informationen, die unsere Quelle vom Referenten im Stab der deutschen Luftwaffe erhalten hat“, seien „deutsche Aufklärungsflüge über sowjetischem Territorium in vollem Gange.“ Am 2. April erfährt Moskau: „Starschina informiert, dass seine Dienststelle den Plan zum Überfall auf die Sowjetunion vollständig vorbereitet … hat.“ Der sehe vor, „durch Luftangriffe folgende Eisenbahn-Magistralen zu paralysieren: 1. Tuja-Orjol-Kursk-Charkow / 2. Kiew-Gomel / 3. Südstrecke durch Jelez / 4. Südstrecke durch Rjazhsk ...“ In Erdbergs Meldung vom 22. Mai 1941 heißt es, ab 25. Mai bestehe „Urlaubssperre für Soldaten und Offiziere in den Truppenteilen der östlichen Gebiete“.Was soll man glaubenFür die NKGB-Zentrale in Moskau klingen diese Lageberichte in all ihren Details zu schlüssig, um wahr zu sein. Läuft man Gefahr einer Provokation aufzusitzen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen und Hitler den gewünschten Vorwand zum Losschlagen zu liefern? Stalin ist irritiert, voller Zweifel und Misstrauen. Moskau empfängt nicht nur Signale von Erdberg, Korsikanez und Starschina, auch andere verschaffen sich Gehör. Die deutsche Abwehr könnte zudem ein Funkspiel aufziehen und Absender in Berlin vortäuschen, die es gar nicht gibt. Einmal heißt es, die Wehrmacht massiere Truppen in Polen, weil sich so eine Invasion gegen England am besten tarnen lasse. Dann aber funkt Erdberg: Was in Polen passiert, richtet sich gegen uns!Anfang Mai 1941 erfährt Stalin, Graf von der Schulenburg, der deutsche Botschafter in Moskau, wolle ihn zu einem Briefwechsel mit Hitler einladen, damit es „keine Irritationen“ gebe. Was und wem soll man glauben? Tatsächlich spekuliert die sowjetische Führung nie ernsthaft darauf, der Schlacht mit Deutschland zu entgehen. Aber sie rechnet erst Mitte 1943 damit, sobald England geschlagen ist oder sich Churchill mit Hitler arrangiert. Einen Zwei-Fronten-Krieg – gibt sich Stalin vor Molotow überzeugt – würden Hitler und Göring vielleicht riskieren, ihre Generäle nie. Die haben zwischen 1914 und 1918 im Schraubstock des Zwei-Fronten-Krieges gesteckt, bis ihnen die Augen übergingen.Und schließlich, weshalb nehmen die deutschen Freunde in Berlin tödliche Gefahren auf sich? Warum für ein paar Nachrichten in Richtung Kreml bis zum Äußersten gehen? Fragt Oberst Fitin sinngemäß bei Dimitroff nach. Für Hoch- und Landesverräter gibt es im Krieg kein Pardon. Wollen sie das riskieren? Die eiskalten acht Quadratmeter Zelle im Hausgefängnis der Gestapo an der Prinz-Albrecht-Straße? Stiefel wie Hammerschläge im Zellengang, Herzschlag bis in den Hals, wenn der SS-Mann zum nächsten Verhör abholt. Kleben von Tütenpapier. Schachspiele aus Tütenpapier. Abschiedsbriefe auf Tütenpapier?Nach der Verhaftung von Schulze-Boysen, Harnack und fast hundert Freunden sowie zum Teil nur flüchtig miteinander Bekannten im August/September 1942 bittet die Gestapo bei SS-Führer Himmler schriftlich darum, „verschärfte Verhöre“ führen zu können. Der stimmt zu, die Gefangenen dürfen ausgepeitscht werden. Daumenschrauben sind erlaubt, auch Wadenklammern werden als Folterinstrumente eingesetzt. Handschellen sowieso, notfalls Tag und Nacht.Wenn auf den Schlachtfeldern Menschenleben so billig werden, dass sie fast nichts mehr kosten, warten in Berlin-Plötzensee Scharfrichter vor Hanfschlingen an Fleischerhaken, um ihres Amtes zu walten. Sie warten auch auf Starschina und Korsikanez, um sie in der Nacht vom 22. zum 23. Dezember 1942 mit ausgerenkten Hälsen in der Pathologie an der Invalidenstraße abliefern zu können.Erst sind die Deutschen wie Kälber an Hitler vorbei gezogen, dann marschieren sie genauso in den Krieg. Wer das als Stachel in sich spürt, will nicht nur dagegen sein, sondern etwas dagegen tun. Harro Schulze-Boysen – erinnert sich der Schriftsteller Günther Weisenborn in seinem Buch Memorial – habe ihm am 31. August 1939, einen Tag vor dem Einfall in Polen, gesagt: „Jetzt wird wirklich Weltgeschichte gemacht, nur macht er (Hitler – L.H.) sie nicht mehr allein. Wir werden uns alle ein wenig daran beteiligen ...“Kein zweites 1918So erschöpft sich ab 1939 die Auflehnung der Widerstandsgruppe um Schulze-Boysen nicht mehr in konspirativen Treffen, Flugblättern und Denkschriften. Besser, den Gegner dort treffen, wo er sich unverwundbar glaubt: in der seelenlosen Mechanik seiner Kriegsmaschine, die bald auch die Sowjetunion überrollen soll. Die Rote Armee zu warnen und in die Lage zu versetzen, der Wehrmacht in den Arm zu fallen, gilt Schulze-Boysen, Harnack und all den anderen nicht als Verrat, sondern Notwehr. Ein verzweifelter, abenteuerlicher, tollkühner Versuch, den Untergang Deutschlands aufzuhalten. Sie sind überzeugt, das Land ihrer Väter kann nur auf Rettung aus dem Osten hoffen. Allein eine Partnerschaft mit der Sowjetunion verhindert, dass Deutschland bei einer Kriegsniederlage ein zweites „Versailles“ widerfährt – ein Friedensdiktat des Westens, das den Besiegten wie schon einmal zur Ader lässt. Als 1940 in seinem Ministerium immer mehr Einzelheiten über das Unternehmen Barbarossa bekannt werden, ist Arvid Harnack entsetzt und erschüttert. Deutschland fehlen für einen solchen Feldzug die Ressourcen. Das heißt Finis Germaniae, unwiderruflich. Wie viel Blitzkrieg auch immer beschworen wird.An seinen Vater, den Korvettenkapitän Erich Schulze, schreibt Harro Schulze-Boysen, während er im Herbst 1942 fast täglich von der Gestapo verhört wird, man habe aus der Annahme heraus gehandelt, „dass sich die Situation von 1918 wiederholen könnte. Damals mussten wir das Diktat unterzeichnen, weil es unserer Außenpolitik an Rückendeckung gegenüber den Westmächten fehlte … Diese Voraussetzungen wollten wir diesmal schaffen, und diesem Ziel haben wir alles untergeordnet.“ Der Abschlussbericht des Reichssicherheitshauptamtes über den Kreis um Schulze-Boysen vom 22. Dezember 1942 vermerkt zu den Gründen, „welche die unschädlich gemachte Hoch- und Landesverratsgruppe in Berlin zu ihrer reichsfeindlichen Einstellung veranlassten“ unter Punkt 3: „Deutschland kann nur in engster Zusammenarbeit mit der SU existieren, um dem Angriff der Westmächte auch in Zukunft Widerstand zu leisten.“Die Nazis hatten so viel in Deutschland zerstört und doch die innere Front der Todesmutigen nie durchbrechen können. „Ich bin nur ein Vorläufiger gewesen in meinem teilweise noch unklaren Drängen und Wollen“, schreibt Harro Schulze-Boysen an seine Eltern aus der Todeszelle in Plötzensee. „Glaubt mit mir an die gerechte Zeit, die alles reifen lässt.“
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