In der Moskauer Mittelschule Nr. 59 zeigt Michail Prochorow im Trainingsanzug ein paar Übungen fürs Basketball-Training. Der asketisch wirkende Milliardär geht in die Liegestütze und wirft sich mit einem Arm einen Ball über den Rücken, um ihn mit dem anderen blitzartig wieder aufzufangen. Die Schüler, die der Übungsstunde des Zwei-Meter-Mannes zuschauen, scheinen beeindruckt. Für russische Fernsehzuschauer sind das ungewohnte Bilder: Noch nie gab sich ein Oligarch so volksnah. Der Präsidentschaftskandidat Prochorow, der dem Favorit Wladimir Putin beim ersten Wahlgang am Wochenende Paroli bieten will, hat solche Auftritte bitter nötig.
Oft wirkt der Chef der Onexim-Investment-Gesellschaft kühl. Dem Habitus des scharf kalkulierenden
lierenden Bankers kann er nur selten ablegen. Seit den frühen neunziger Jahren verdient er sein Geld mit Finanzdienstleistungen und Industrieunternehmen. Von 2001 bis 2008 war Prochorow Direktor der weltgrößten Nickel-Hütte im Norden Russlands. Heute beträgt das Vermögen des Sohn eines sowjetischen Sportfunktionärs etwa 18 Milliarden Dollar. Er ist immer noch Junggeselle. Doch wäre der 46-Jährige jederzeit bereit zu heiraten, „wenn das dem Land nutzt“, wie er jüngst mitteilte.Patriotischer UnternehmerMit Kritik am Rivalen Putin hat sich Prochorow im Wahlkampf zurückgehalten, jedoch erklärt, als Staatschef würde er Michail Chodorkowski, den internierten Ex-Eigentümer des Öl-Konzerns Yukos, sofort begnadigen. Er präsentiert sich der Öffentlichkeit als patriotischer Unternehmer. Das Land müsse weg von einseitigen Rohstoff-Ausfuhren und die Wirtschaft modernisieren. Seine 2010 vorgebrachte Idee, zur ökonomischen Kräftigung sollte Russland vorübergehend der 60-Stunden-Woche nähertreten, tauchte freilich im Wahlkampf nirgendwo auf.Ohne Zweifel hat Prochorow einen Nerv dafür, dass Russland mit dieser Wahl eine Zeitwende besteht oder verpasst. Die Autokratie der Post-Jelzin-Ära hat sich überlebt. Schon die im September als vollendete Tatsache verkündete Rochade zwischen Putin und Medwedjew, der zum designierten Ministerpräsidenten ausgerufen wurde, hat eine urbane Mittelschicht als Zumutung empfunden. Die seit Jahren versprochene Hinwendung zu einer modernen Zivilgesellschaft hatte man sich anders vorgestellt. Doch wird Putin diesem Anspruch als Staatschef nicht entkommen – alles andere würde das Land wirtschaflich in die Stagnation führen und soziale Eruptionen auslösen, die sich wohl nur schwer eindämmen ließen.Er erstaunt wenig, wenn dem Kandidaten Prochorow von Demoskopen des Moskauer WZIOM-Instituts für den ersten Wahlgang in Metropolen wie Moskau und St. Petersburg bis zu 16 Prozent prognostiziert werden. Damit läge er dort auf Rang zwei hinter Putin. Einige Beobachter vermuten, Prochorow versuche im Auftrag des Kreml Stimmen der liberalen Wähler abzuschöpfen. Natürlich bestreitet der Bewerber derartige Arrangements und zeigt sich auf den Demonstrationen der Protestbewegung "Für ehrliche Wahlen". Nicht auszuschließen, dass der Oligarch dennoch in der künftigen Regierung sitzt. Die von Putin kürzlich vorgeschlagene Überprüfung der Privatisierung aus den neunziger Jahren lehnt der Milliardär allerdings ab. So etwas habe "noch in keinem Land geklappt". Wer Betriebe zum Schleuderpreis erworben hat, soll nach dem Willen Putins durch eine Einmalzahlung an den Staat "die Gerechtigkeit wiederherstellen". Was Prochorow zu der ebenfalls vom Kreml-Kandidaten in Aussicht gestellten Luxussteuer für Wohnungen von mehr als tausend Quadratmetern Fläche sagt, ist nicht bekannt.Sensationelles EingeständnisNeben seinen Eingebungen zu stärkeren Lasten für die Reichen spielt auch Putin im Wahlkampf die patriotische Karte. Die staatlichen Fernsehkanäle bringen Enthüllungsfilme über Treffen von Oppositionsführern mit dem US-Botschafter in einem Moskauer Restaurant. Im hauptstädtischen Luschniki-Stadion gibt der Premier vor 100.000 Anhängern den Garanten nationaler Größe. Den Zuhörern bläut er ein, die Russen hätten "das Sieger-Gen". Man werde es niemandem erlauben, sich in die inneren Verhältnisse einzumischen. Die Arena tobt. Libyen wird nicht ausdrücklich genannt, aber es ist klar, dass Putin auf die NATO-Intervention zugunsten des Anti-Gaddafi-Lagers anspielt.Schon vor diesem Auftritt hat er in einem Aufsatz für die Rossiskaja Gazeta ein neues Rüstungsprogramm im Wert von umgerechnet 500 Milliarden Euro versprochen. Es gehe nicht um Aufrüstung, sondern um den Ersatz alter Waffen. Verunsichert durch die drei Protest-Monate seit der Duma-Wahl Anfang Dezember wirkt der Bewerber nicht. Die Forderung nach seinem Rücktritt als Premierminister habe sich nicht wirklich durchgesetzt und werde derzeit nur von 18 Prozent der Walberechtigten getragen, analysieren die unabhängigen Meinungsforscher des Lewada-Instituts. Doch brauche Putin im ersten Wahlgang nun ein eindrucksvolles Ergebnis.Nach dem Manipulationsverdacht bei den Dumawahlen hat die Protestbewegung diesmal Tausende von Beobachtern geschult. Sie will genau nachzählen, wer am 4. März wie viele Stimmen erhält. Dass sich noch einmal wie beim Präsidentenvotum 2004 etwa 71 Prozent der Wähler für Putin entscheiden, scheint so gut wie ausgeschlossen. Die WZIOM-Demoskopen geben ihm 53 bis 55 Prozent. Das würde Putin den zweiten Wahlgang ersparen, wäre aber so schwach, dass sich die Protestszene ermutigt fühlen könnte.Käme es zur Stichwahl, würde sich Putin wahrscheinlich nicht Prochorow gegenüber sehen, sondern dem Kandidaten der Kommunisten, Gennadi Sjuganow. Der kann am 4. März mit etwa 15 Prozent rechnen. Die KP ist trotz des Ausscherens ganzer Parteigliederungen in St. Petersburg und Moskau – sie verweigern sich Sjuganow wegen seines autoritären Führungsstils und großrussischer Töne – weiter führende Oppositionskraft, die in den vergangenen Jahren auch für junge Wähler und Liberale attraktiv wurde. Sjuganow ist auf die Protestbewegung eingegangen, indem er versprach, unter seiner Ägide würde es für einen Präsidenten nicht mehr als zwei Amtszeiten geben. Putin versucht es bekanntlich ein drittes Mal. Auch die bis 2004 übliche Direktwahl der Gouverneure will der KP-Vorsitzende wieder einführen. Außerdem verkündet Sjuganow, die Bodenschätze und wichtigsten Banken nationalisieren zu wollen, um die Einnahmen des Staates zu verdoppeln.Eigentlich hätte Sjuganow wohl schon 1996 Präsident werden müssen. Nach dem offiziellen Ergebnis bekam der KP-Kandidat damals in der Stichwahl gegen Amtsinhaber Boris Jelzin nur 40,3 Prozent. Doch nun hat Präsident Dmitri Medwedew auf einem Treffen mit Gesandten der Opposition eingeräumt, das Votum sei seinerzeit manipuliert worden. Die Äußerung war wohl gedacht als Angriff auf Boris Nemzow, den Sprecher der Protestbewegung, der 1997 von Jelzin zum Vizepremier ernannt wurde. Das Präsidialamt wollte die spektakulären Enthüllung allerding so nicht stehen lassen: Medwedew sei missverstanden worden.