Griechenland Bei der anstehenden Wahl am 6. Mai dürften die Volksparteien ihr Volk verlieren. Das Votum kann zu einem politischen Erdrutsch führen. Doch sicher ist das keineswegs
Die beiden großen Volksparteien, die bisher die Geschicke Griechenlands selbstherrlich lenkten, verharren seit Monaten in Umfragen bei einem historischen Tief. Nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts MBR ist die sozialdemokratische PASOK auf sagenhafte 13, die konservative Nea Dimokratia (ND) auf 20 Prozent abgestürzt. Die Zahlen spiegeln, was die meisten Griechen empfinden: nicht Empörung, sondern Wut.
Korruption, Diebstahl und den Ausverkauf des Landes werfen sie beiden Parteien vor. Hinzu kommt der mit den Hilfspaketen einhergehende Souveränitätsverlust, der als besonders kränkend empfunden wird. In manchen Dörfern Kretas rüsten sich Bewohner bereits mit Gewehren und Pistolen und wollen keine weiteren Sparpläne und Steuern mehr hinnehmen.
ern mehr hinnehmen. „Wir sind zu allem entschlossen“, heißt es. Doch das waffenvernarrte Kreta ist ein Sonderfall. Die Mehrheit zahlt widerwillig und zähneknirschend, will dafür aber am 6. Mai die Rechnung präsentieren. Während Nea Dimokratia und PASOK dahinschmelzen wie Eisblöcke, erstarken neue Parteien, die wie Pilze aus dem Boden schießen.Geradezu atomisiertGute Chancen haben etwa die ultrakonservativen Unabhängigen Griechen, denen sieben Prozent prophezeit werden. Ihr Gründer Panos Kammenos (47) stimmte im November – noch als Mitglied der Nea Dimokratia – gegen Premier Papadimos. Daraufhin wurde er aus der Fraktion ausgeschlossen. Kurzerhand gründete Kammenos seine eigene Partei. Eine übliche Vorgehensweise in diesem Land, in dem – mit Ausnahme der Kommunisten – Parteien absolutistisch geführt werden und in ihren Zielen nicht etwa Grundsatzprogrammen, sondern der Weltanschauung ihres Gründers folgen. Die Unabhängigen Griechen zählen zum Lager der „Anti-Memorandum-Parteien“. Das heißt, sie sind gegen die Auflagen der Troika aus EU-Kommission, IWF, EZB, gegen Strukturreformen, gekürzte Renten und andere Spardiktate. Panos Kammenos rührt kräftig die populistische Trommel. Er fordert, parlamentarische Immunitäten aufzuheben, um Politiker zu bestrafen, die das Land in den Abgrund gestürzt haben. Er will Köpfe rollen sehen wie die meisten seiner Landsleute auch.Auch LAOS schlägt kräftig auf die Pauke, Griechenlands rechts-populistische Partei, die seit 2007 im Parlament sitzt. Ihr Gründer Georgios Karatzaferis (65), ehemaliger Journalist, macht die Ausländer für alles verantwortlich. Auch er war Mitglied der Nea Dimokratia, bis er sich mit Kostas Karamanlis zerstritt und – wie sollte es anders sein – eine neue Partei gründete. Zunächst war LAOS gegen die Auflagen der Troika, dann Teil der Koalitionsregierung unter Premier Papadimos. Schließlich scherte sie aus, um die Sparauflagen nicht weiter mittragen zu müssen. Der Zickzackkurs kostet Stimmen, die Umfragewerte sind auf drei Prozent gesunken.Noch rauer als LAOS gebärdet sich die Goldene Morgenröte, eine faschistische Schlägertruppe, die erstmals die Drei-Prozent-Hürde nehmen und ins Parlament ziehen könnte. Ihre Mitglieder patrouillieren durch das Athener Viertel Agios Panteleimon und prügeln schlafende Ausländer aus den Parks, begleiten Rentner beim Einkauf und beim Gang zum Geldautomaten. Die selbst ernannte Bürgerwehr mobilisiert gegen Kriminalität und illegale Einwanderer. Bei den älteren Einwohnern hat sie Sympathien gewonnen. Vier Prozent geben ihr die Demoskopen.So wie das rechte ist auch das linke Spektrum zersplittert – in Ökologen, Stalinisten, Trotzkisten, Sozialisten, wie überhaupt die ganze Gesellschaft geradezu atomisiert ist. Jeder verfolgt seine eigenen Interessen. Von derzeit 300 Abgeordneten im Parlament sind 40 unabhängig. In jeder Partei gibt es zig Strömungen. Minister verweigern die Umsetzung beschlossener Gesetze. Politiker wechseln die Parteien wie Zapper die Fernsehkanäle – Griechenland hat elf Millionen Einwohner. Das sind elf Millionen Demokratien.Wachsender Zustimmung erfreut sich die gerade zwei Jahre alte Demokratische Linke, die enttäuschte Wähler von PASOK abschöpft. Sie steht bei sieben Prozent. Ihr Vorsitzender ist der 64-jährige Fotis Kouvelis, Jurist und Ex-Mitglied der Partei Synaspismos, einer Koalition der Linken. In den Umfragewerten ist Kouvelis einer der beliebtesten Politiker. Was an seiner Rhetorik liegt. Klar und sachlich spricht er über die Krise, während die meisten im vaterländischen Pathos schwelgen. Sicher ist, dass Kouvelis für den Verbleib in der Eurozone plädiert. Sicher sind ebenso die Ziele der KKE, der Kommunistischen Partei: Austritt aus der NATO wie der EU und Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Bliebe die Mitte, gebildet aus PASOK und Nea Dimokratia, die selbst noch fünf Minuten vor Auflösung des Parlaments nicht lassen können, was sie gern als Volkssport betreiben: Gefälligkeitsnovellen verabschieden. Griechische Politiker sind Weltmeister im Abändern bestehender Gesetze und verteilen die üblichen Geschenke kurz vor der Wahl. Sie tun es in der Hoffnung, den Sitz im Parlament, der Millionen Euro wert ist, nicht zu verlieren. Auch nach dem Votum vom 6. Mai wird das Klientel-System überleben. Es ist das Einzige, was die Politiker anzubieten haben. Und es ist das, was die meisten Griechen von der Politik erwarten – einen Patron, der für ihre ganz individuellen Interessen einsteht: einen Arbeitsplatz für die Tochter, eine asphaltierte Zufahrt zum Ziegenstall. Die Konsequenz: alte Denkmuster, schleppende Reformen, eine darniederliegende Wirtschaft.Irrationalität des WählersWas bei diesem Votum vermutlich auf der Strecke bleibt – das ist die Übermacht der etablierten Volksparteien. Egal, wer ins Parlament einzieht, niemand wird die absolute Mehrheit gewinnen. Laut Umfragen wünschen sich 65 Prozent der Wähler eine Koalition, fast die Hälfte davon will eine Koalition ohne PASOK und Nea Dimokratia. Ein Novum in der Wiege der Demokratie, in der Dialogkultur und Kompromissbereitschaft so wenig verbreitet sind wie die Einsicht in die Notwendigkeit, Steuern zu zahlen.Naturgemäß sieht Antonis Samaras als Chef der Nea Dimokratia alles anders. Er schürt Furcht vor chaotischen Zuständen im Parlament und bittet um ein klares Mandat. Nur eine Regierung mit ungeteilter Macht, könne die Krise meistern, erklärt der Harvard-Absolvent und träumt vom Wahlsieg. Sehr viel realistischer gibt sich PASOK-Chef Evangelos Venizelos. Er ist bereit, mit dem ewigen Erzrivalen zusammenzuarbeiten, was bei den niedrigen Umfragewerten seiner Partei nicht verwundert.Alles haben die Demoskopen durchgespielt, nur eines entzieht sich ihrem Zahlenspiel: die Psyche, die Irrationalität des Wählers. Seine Beziehung zu einer Partei hat oft einen religiösen, geradezu zwanghaften Charakter. Jeden Tag flucht er auf die Politiker und erklärt vor Freunden, sie nie wieder wählen zu wollen. Sobald er in der Wahlkabine steht, setzt er das Kreuz genau dort, wo es immer hinkam. Ein Automatismus, von dem Nea Dimokratia und PASOK profitieren werden. Es sei denn, das Land folgt jener, auf einem Müllcontainer in Athen gekritzelten Aufforderung: „Wählen Sie hier!“
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