In Ostdeutschland herrscht akuter Ärztemangel. Ein Grund: Die meisten Mediziner sind überaltert. In Sachsen, Brandenburg, Thüringen und Sachsen-Anhalt ist ein Drittel der Hausärzte älter als 60. Nachwuchs gibt es kaum. Die niedergelassenen Ärzte im Osten werden bisher deutlich schlechter honoriert als ihre Kollegen im Westen.
Wolfgang Reiher verspricht den Eltern, noch in dieser Woche mit einem Orthopäden über die Ergebnisse der Untersuchung zu sprechen, während der 15-jährige Sohn nach seinem T-Shirt greift. Dann verabschiedet sich der Kinderarzt von seinem Patienten. Mit leichtem Knall fällt die Tür hinter der Familie ins Schloss. Wie ein Schlussakkord. Es ist 19.30 Uhr an diesem Freitag. Feierabend hat der Kinderarzt Wolfgang Re
rarzt Wolfgang Reiher noch lange nicht. Auf dem Schreibtisch seiner Praxis im vogtländischen Reichenbach stapeln sich Patientenakten. In seinem Laptop muss er noch für die Abrechnung bei der Kassenärztlichen Vereinigung diverse Behandlungen erfassen. In den zurückliegenden 13 Stunden hat er 106 Kinder behandelt, vom Säugling bis zum Teenager. So geht es von Montag bis Freitag. Tag für Tag. Seit Jahren.Wolfgang Reiher lässt sich in den Stuhl am Schreibtisch im Behandlungszimmer fallen. Er nimmt kurz die Brille ab und versucht, sich die Müdigkeit aus den Augen zu reiben. Es gelingt ihm nicht. In seinem blau-grün geringelten Shirt und den weißen Arzthosen sieht er aus wie ein Seemann. Einer, der den Kindern die Angst vor dem Arzt nehmen will. Auch wirkt seine Praxis wie ein schwer überladenes Boot.Im Nachbarort feierte die letzte Hausärztin gerade ihren 70.Eigentlich hat ihm die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen nur 1.100 Patienten pro Monat zugestanden. Dafür ist sein Praxisbudget ausgelegt. Nachdem jedoch von den einst vier Kinderärzten in der Kreisstadt einer vor Jahresfrist seinen Kittel endgültig an den Nagel gehängt hat, kommt Reiher inzwischen auf 1.800 Patienten. Für eine Übergangszeit wurde ihm eine kleine Aufstockung des Solls bewilligt. Nun aber wird das Budget des ausgestiegenen Pensionärs definitiv an ein 20 Kilometer entferntes medizinisches Versorgungszentrum vergeben, da derartige Zentren momentan gefördert werden. Patienten richten sich freilich nicht nach den Förderrichtlinien der Kassenärztlichen Vereinigung und der Gesundheitspolitik. Sie stehen jeden Morgen Schlange auf der Treppe vor Reihers Praxis. Der hat Einsprüche an die Kassenärztliche Vereinigung nach Dresden geschickt und sah sich umgehend mit ablehnendem Bescheid bedacht, ohne dass sich jemand aus der sächsischen Medizinbürokratie nach Reichenbach auf den Weg gemacht hätte. Es gäbe noch zwei weitere Kinderärzte im Ort, das müsse laut Statistik ausreichen. Was die Kassenärztliche Vereinigung ausblendet, die beiden anderen Kollegen sind weit über 50. Und Reihers Patienten kommen nicht nur aus Reichenbach, auch aus Zwickau oder Plauen, es gibt schließlich kaum noch Pädiater im Vogtland, viele haben längst die Altersgrenze überschritten und ihre Praxen geschlossen. Natürlich könnte er neue Patienten abweisen. Aber das hat Reiher noch nie getan.Die Politik scheut sich, davon zu sprechen, dass in vielen Regionen Ostdeutschlands akuter Ärztemangel herrscht. Als Sprachregelung gilt, es gäbe "eine drohende medizinische Unterversorgung". Reihers Patienten brauchen keine Sprachregelungen. Wer in seiner Praxis mit einem kranken Kind drei Stunden wartet, erfährt die "drohende medizinische Unterversorgung" hautnah. Mühelos lässt sich errechnen, wie viel Zeit dem Arzt bei einem Ansturm von über 100 Patienten in zehn Stunden Öffnungszeit für ein Kind bleibt. Reiher versichert, er habe sich das nie vor Augen gehalten. "Jeder bekommt die Zeit, die nötig ist. Wenn es bei einem länger dauert, müssen die anderen draußen halt länger warten." Er brauche Zeit, um seine Diagnose zu stellen, und Ruhe, um den Eltern zu erklären, wie er vorgehen wolle.Als Alternative lieber auf den Hausarzt zu setzen, wäre sinnlos. In Reichenbachs Nachbarort Syrau feierte die letzte praktizierende Hausärztin der Gegend gerade ihren 70. Geburtstag.Demnächst wird aus der Praxis die Kanzlei eines SteuerberatersEin Kinderarzt in Ostdeutschland verdient laut Auskunft des Gesundheitsministeriums nach Abzug aller Kosten im Jahr durchschnittlich 74.190 Euro vor Steuern - etwa 17 Prozent weniger als die 89.924 Euro, auf die es vergleichbare Praxen in den alten Ländern bringen. Freilich muss der Kollege/Ost für sein Geld bis zu einem Drittel Patienten mehr behandeln als der Kollege/West. Abgesehen davon, dass die Ärztehonorare durch die festgezurrten Budgets begrenzt sind. Wolfgang Reiher kann zwar so viele Patienten haben, wie er will - wenn sein Budget für die bewilligten 1.100 erschöpft ist, arbeitet er quasi zum Nulltarif weiter. "Dann bekomme ich für eine hundertprozentige Arbeitsleistung gerade noch 1,7 Prozent des eigentlichen Honorars. Das interessiert aber meinen Energieversorger nicht. Der will für den Strom, den das Ultraschallgerät verbraucht, immer 100 Prozent. Wer wirtschaftlich denkt, wird sich unter diesen Bedingungen nicht im Osten niederlassen. Eine Praxis ist auch ein Betrieb. Und der muss sich rechnen."Reihers Ex-Kollege Klaus Hübner suchte vier Jahre per Zeitungsanzeige, Internet und Headhunter vergebens einen Nachfolger für seine Praxis. Zuletzt wollte er alles verschenken, die Räume, das Inventar und die Patientenkartei mit 1.400 Namen. Kein einziger deutscher Arzt wollte zugreifen, allein drei Kollegen aus Ungarn waren interessiert, aber selbst die - erzählt Hübner - hätten sich letzten Endes für Westdeutschland und die Schweiz entschieden, weil man dort für weniger Arbeit mehr verdient als im schönen Vogtland. Klaus Hübners Praxisschild hängt noch, die Öffnungszeiten sind mit schwarzem Band überklebt. "Es ist bitter zu sehen, dass hier nichts mehr passiert, wo früher jeden Tag Dutzende Patienten ein- und ausgingen. Junge Ärzte wollen lieber in die Großstädte. Hierher, an die Peripherie, zieht es niemanden, weil die Politik vergessen hat, die Weichen zu stellen." Demnächst wird aus Hübners Praxis die Kanzlei eines Steuerberaters.Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hofft inständig, durch die Gesundheitsreform den Ärztemangel in den neuen Ländern abbauen zu können. So wird es ab 2009 eine bundesweit einheitliche Honorarordnung geben für ambulante Leistungen, zugleich sollen die Arztbezüge im Osten um zirka 20 Prozent steigen, wozu drei Milliarden Euro zusätzlich in den Honorarfonds für niedergelassene Ärzte fließen. Ulla Schmidt verspricht sich davon mehr Gerechtigkeit. Außerdem will sie Medizinstudenten Stipendien zahlen, wenn die sich verpflichten, nach der Facharztausbildung für fünf Jahre dorthin zu gehen, "wo man nicht freiwillig hingehen würde". Zwar steht diese Gebührenordnung bereits im Gesetzblatt, ist aber noch nicht rechtskräftig, denn die westdeutsche Ärzteschaft - besonders die aus Baden-Württemberg und Bayern - läuft dagegen Sturm. Sollten die Gebührensätze künftig Mittelwerte aus dem bisher in Ost und West unterschiedlichen Honorarrahmen sein, bedeutet das: Im Osten gibts mehr, im Westen weniger, zum Teil bis zu 15 Prozent. Hans-Michael Oertel vom MEDI Hausärzteverband in Baden-Württemberg beschwert sich: "Erstmalig wird in der Bundesrepublik eine Berufsgruppe beschnitten, damit in einem anderen Teil Deutschlands die gleiche Berufsgruppe besser bezahlt wird." Das werde man nicht hinnehmen. Ulla Schmidt hält dem entgegen, dass es nur gerecht sei, wenn von der Honorarreform die Ärzte im Osten profitieren und Ärzte, "die schon lange mehr verdient hätten, nun abgeben müssten".Für Wolfgang Reiher sind diese Debatten weit weg. Er klappt seinen Laptop zu. Die Abrechnung für die Kassenärztliche Vereinigung war eine Farce. Jetzt, Anfang Juni, ist sein Budget für das II. Quartal schon lange aufgebraucht. Folglich hat er an diesem Tag nichts verdient. Für seine medizinische Leistung, die in Punkten abgerechnet wird, bekommt er pro Punkt - so lange das Budget reicht - 4,1 Cent. Ist es damit vorbei, sinkt der Punktwert auf 0,07 Cent. 1.000 Punkte hat Reiher an diesem Tag gesammelt - für 70 Cent Honorar. Nachdenken darf der Arzt darüber nicht: "Der Spaß an der Arbeit mit Kindern geht mir nicht verloren. Und das bleibt doch das Wichtigste."
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.